: Carl-Heinz Evers, Erfinder der Berliner integrativen Schulen
NACHRUF Er führte die sechsjährige Grundschule und die Gesamtschule in Berlin ein: Carl-Heinz Evers, ehemaliger Berliner Schulsenator und KMK-Präsident
Er hat seine eigene Art Humor. Viele seiner amtlichen Schreiben zeichnete er mit CHE. Die meisten dachten sofort an den kubanischen Revolutionär. Dabei stehen diese Kürzel für Carl-Heinz Evers. Einer der wichtigsten und wegweisenden deutschen Bildungspolitiker – der allerdings an dem Konservatismus seiner Partei, der SPD, und zugleich dem der Gesellschaft scheiterte.
Im vergangenen Sommer zeigte der Volksentscheid über die Primarstufe in Hamburg, wie Eltern aus „besseren“ Stadtteilen eine ganze Stadt in Aufruhr versetzen können. Wenn man weiß, wie viel Getöse diese Schulreform auslöste, kann man erahnen, welche Berge Carl-Heinz Evers zu Zeiten des kalten Krieges in der „Frontstadt“ Westberlin versetzt hat. Evers führte damals die Gesamtschule in Berlin ein und kämpfte für die sechsjährige Grundschule. Das eine gelang halb, das andere ganz.
Evers war damals Berliner Schulsenator. 1963 hatte ihn der Regierende Bürgermeister Willy Brandt dazu berufen. Brandt ließ sich von Evers auch für eine bundesdeutsche Schulpolitik beraten. Die prägenden Stichworte des „Mehr Demokratie wagen“ durch eine radikale Öffnung der Bildungsinstitutionen, diese Ideen wurden auch von Calle Evers Zeit mit Brandt inspiriert. Vorher war er 1957 Bezirksschulrat in Berlin-Tempelhof, 1959 Landesschulrat von Westberlin.
Gebeugt hat er sich nie. Weder vor Autoritäten noch vor sogenannten Sachzwängen. Einmal verführt gewesen zu sein, als er sich mit achtzehn freiwillig zu Hitlers Kriegsmarine meldete, hat für ein Leben gereicht. Er blieb wachsam gegen jede Ungerechtigkeit, engagierte sich für Benachteiligte und für den Frieden in der Welt, achtlos nur gegenüber dem eigenen Vorteil.
Evers überlebt die sowjetische Gefangenschaft und beginnt 1946 ein Studium in Halle. 1950, nachdem er im DDR-Kommunismus unangenehm aufgefallen war, flieht er nach Westberlin und beendet hier sein Lehrerstudium in Mathematik und Physik.
Innerhalb der Kultusministerkonferenz (KMK) wird er zum entschiedenen Verfechter einer Demokratisierung der Schule. 1968 legt er einen Plan zur Reform der Schulen und Hochschulen für die BRD und Westberlin vor, nachdem er vor allem das Schulsystem Schwedens ausführlich vor Ort studiert hatte: Nicht mehr die Herkunft der Kinder sollte entscheiden, sondern Chancengleichheit ist das Ziel. Soziales Lernen soll ebenso wichtig sein wie intellektuelle Bildung. Auch dies eine Lehre aus der NS-Zeit, als die Mehrheit der deutschen Professoren Hitler bejubelt hatte. Im Kontext einer erwachenden Studentenbewegung erhält das als „Evers-Modell“ bald auch international bekannte Reformvorhaben „Gesamtschule“ viel Anerkennung. Der damalige schwedische Bildungsminister und später ermordete Ministerpräsident Olof Palme wird ein Freund.
Ende 1969 – er ist nun Präsident der KMK – versagt ihm der Westberliner SPD-Vorstand den für die weitere Realisierung seiner Gesamtschulpläne nötigen Etat. Ein Machtspiel, bei dem er, der nie auf parteiinterne Seilschaften gesetzt hat, schlechte Karten hat. Am 4. März 1970 reicht er seinen Rücktritt ein – „um der eigenen Glaubwürdigkeit zu dienen“, wie er es formuliert. Dann passiert etwas, was man sich heute niemals vorstellen könnte: In den kommenden Tagen demonstrieren Westberliner Schüler und Eltern für „ihren“ Schulsenator.
Seinen Überzeugungen bleibt er treu: 1972 bis 1974 als Vorsitzender der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule, später auch als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Er wirkt in Kuratorien und Beiräten von Aktion Sühnezeichen über die DGB-nahe Hans-Böckler-Stiftung bis zu den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden. Vielen jungen AkademikerInnen, die qualifiziert sind, aber nicht über die nötigen Mittel zum Graduiertenstudium verfügen, verhilft er zu Stipendien. Er bleibt Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Und gehört dem Beirat der Fachzeitschrift Pädagogik an. Von 1973 bis 1983 ist er Honorarprofessor an der Technischen Universität Berlin.
Nur mit einer Organisation hat er in all den Jahren nach langem Abwägen gebrochen: Aus Protest gegen eine aus seiner Sicht unmenschliche Asylpolitik tritt er 1993 aus der SPD aus. Sein damals in vielen Zeitungen veröffentlichter Protestbrief beginnt mit den Worten: „Ich bleibe Demokrat und Sozialist …“
Carl-Heinz Evers ist bereits im August verstorben. Er wurde 88 Jahre alt und wurde vorvergangene Woche auf dem Stubenrauch-Friedhof beigesetzt.
LUTZ VAN DIJK