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Archiv-Artikel

Eisbären müssen nie weinen

Ein Diskurs über die Liebe, über das Verlangen, über die Maßlosigkeit: In „Sehnsucht“, ihrem zweiten Kinofilm, verfolgt die Regisseurin Valeska Grisebach eine Topografie der Gefühle im schmucklosen Setting eines brandenburgischen Dorfes

Robbie Williams singt „Feel“ – und ein Zuviel an Leben fordert seinen Tributauf einem Feuerwehrfest

VON CRISTINA NORD

„Ich möchte ein Eisbär sein“, singen Ella und Markus, „im kalten Polar, dann müsste ich nicht mehr schrei’n, alles wär’ so klar.“ Draußen ist Winter, in der Stube ist es gemütlich, die Familie hat zu Abend gegessen, nun musiziert sie gemeinsam. Das Licht fällt ein bisschen schummrig auf die Szene, die wie ein Wiedergänger idyllisch-bürgerlicher Hausmusik ist, nur dass Ella nicht am Klavier, sondern am Synthesizer sitzt und kein Stück von Schubert, sondern eines von Grauzone intoniert. Die Tasten schlägt sie dabei so an, dass die Töne hell, klar und wie vereinzelt im Raum stehen. Vom ohnehin schon reduzierten Lied, das Grauzone 1981 sang, bleibt eine aufs Wesentliche verknappte Fassung.

Eisbären müssen nie weinen, Menschen schon. Damit gerät man mitten hinein in den zweiten Spielfilm der Filmregisseurin Valeska Grisebach, mitten hinein in „Sehnsucht“. Menschen haben Wünsche, Gefühle und Begierden, die über das, was Alltag und Routine erlauben, hinausschießen. Von diesem Überschuss handelt „Sehnsucht“, und zwar in einer berückenden Versuchsanordnung.

Grisebach arbeitet nicht mit Schauspielern, deren Gesichter aus Kino und Fernsehen geläufig wären, sie etabliert auch nicht den hinlänglich erforschten großstädtischen Schauplatz, der von beruflich erfolgreichen Twenty- oder Thirtysomethings bevölkert wäre. Stattdessen ist sie ins nördliche Brandenburg gereist und hat dort, in der Nähe von Rheinsberg, im 200-Seelen-Weiler Zühlen, gedreht. Keiner der Darsteller war vorher im Kino zu sehen; Andreas Müller, der die männliche Hauptfigur Markus spielt, ist Mechaniker und engagiert sich in seiner Freizeit bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ilka Welz, die Markus’ Ehefrau Ella gibt, ist Krankenschwester in einem Berliner Krankenhaus, und Anett Dornbusch, die die Kellnerin Rose spielt, ist auch jenseits der Leinwand im Gastgewerbe tätig, im Betrieb ihrer Familie.

Grisebach wählt diese Ausgangskonstellation nicht, weil ihr an Milieuschilderung oder am schalen Begriff der Authentizität gelegen wäre. Genauso wenig zielt sie auf den gemütlichen Humanismus der Kleine-Leute-Ästhetik. Vielmehr unternimmt sie ein Experiment: Ins schmucklose Setting des Brandenburger Dorfs trägt sie eine Topografie der Gefühle ein; zwischen den geduckten Höfen, den Einbauküchen und den winterlich kargen Wiesen verfolgt sie einen Diskurs über die Liebe, über das Verlangen, über die Sehnsucht. Etwas Ähnliches hat sie schon in ihrem Debüt „Mein Stern“ (2001) getan, mit dem Unterschied, dass dort Teenager im Mittelpunkt standen, Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, deren Wünsche und Hoffnungen unverbraucht waren, weil sie sich noch an keinem Sachzwang und keinem objektiven Hindernis hatten stoßen müssen. In „Sehnsucht“ sind die Figuren um die 30, sodass das Wünschen, zumindest auf den ersten Blick, seine Maßlosigkeit verloren hat. Doch wenn Ella zu Markus sagt: „Ich begehre dich so sehr“, ist zu spüren: Dieser Satz ist zu groß für das Ehebett. Dass man ihn aussprechen kann, übersteigt die Möglichkeiten, die das Leben, in dem man sich eingerichtet hat, bereithält.

Markus liebt Ella. Doch bei einem Schulungsausflug der Freiwilligen Feuerwehr lernt er Rose kennen. Was in der ersten Nacht, die Rose und Markus miteinander verbringen, geschieht, verschluckt ein harter Schnitt. Eben noch tanzte Markus im Dorfgasthof zu Robbie Williams’ „Feel“, jetzt liegt er in einem halbdunklen Raum, und dieser Raum ist nicht das Hotelzimmer, das er ein paar Szenen zuvor in Augenschein nahm. Die Kamera (Bernhard Keller) nimmt sich Zeit, um Markus dabei zuzuschauen, wie er in den fremden Laken die Orientierung wiederzugewinnen sucht. In der nächsten Einstellung sitzt er an einem Küchentisch, ihm gegenüber sitzt Rose, und obwohl die beiden es nicht wagen, sich in die Augen zu sehen, liegt auf Roses Gesicht ein breites Lachen. Markus kehrt zurück nach Zühlen, doch Rose und er werden sich wiedersehen. So kommt etwas in Gang, was sich ihrer Kontrolle entzieht.

Valeska Grisebach gelingt mit „Sehnsucht“ eine berückende Mischung: Zum einen nimmt der Film die Dreiecksgeschichte in ihrer tragischen Dimension ernst. Unaufdringlich bringt er Liebesliteratur und -diskurse ins Spiel, zitiert zum Beispiel „Romeo und Julia“ und ruft die Topoi romantischer Liebe wach. Die erste Szene etwa folgt Markus dabei, wie er nach einem Unfall erste Hilfe leistet. Der schwer Verletzte, stellt sich wenig später heraus, hat aus enttäuschter Liebe versucht, Selbstmord zu begehen. Ella und Markus reden darüber. Halb im Spaß, halb im Ernst proben sie Sätze wie: „Ich würde alles für dich tun“, und Ella sagt über den Selbstmordversuch des Fremden: „Irgendwie ist das auch total romantisch.“ Zugleich aber ist „Sehnsucht“ so lakonisch und knapp wie der Schnitt von Markus’ Tanz ins fremde Schlafzimmer (ähnlich harte Schnitte kommen mehrmals vor, so auch, wenn Ella und Markus „Eisbär“ singen. Jäh fährt Bettina Böhler, die Cutterin, in die Gemütlichkeit des Wohnzimmers und in den Gesang von Markus und Ella, um den Zuschauer einen Sekundenbruchteil später mit einer Außenaufnahme, mit dem Geräusch und dem Anblick einer sich öffnenden Autoschiebetür zu konfrontieren).

Wollte man Begriffe aus der Anthropologie verwenden, man könnte sagen, dass Grisebach sich der teilnehmenden Beobachtung und der dichten Beschreibung verpflichtet. Denn sie verzeichnet, wie die Menschen Feuerwehrfeste feiern, wie sie sich um ein Osterfeuer versammeln, wie sie bei der Chorprobe „Dass du mein Liebster bist“ auf Plattdeutsch anstimmen und bei ihren Kaffeekränzchen stets den Schnaps in kleinen Flaschen zur Hand haben. So wie Stefan Eicher, der Komponist von „Eisbär“, mit diesem Lied sein bisheriges, aus Chansons bestehendes Oeuvre einfror, so verfährt auch Valeska Grisebach mit den Gesten und Dramaturgien des Gefühlskinos: Sie reduziert, entschlackt, verknappt, wo immer sie kann. Dabei erwirkt sie ein feines Gleichgewicht. Denn weder lässt sie zu, dass die Beobachtung des Alltags die Gefühle denunziert, noch ordnet sie den Alltag dem melodramatischen Überschuss unter.

Eine besondere Bedeutung fällt dabei der Musik zu. „Eisbär“ beschreibt einen Pol des musikalischen Spektrums, insofern das Lied vom Wunsch, nichts zu fühlen, kündet. Robbie Williams’ „Feel“ markiert den entgegengesetzten Punkt. Ein Hit, abgenutzt und abgegriffen, ein Text, der die großen Empfindungen in große und gerade dadurch banale Worte fasst. Und trotzdem – wenn Markus sich langsam dreht, wenn er den Arm in die Luft hebt, wenn die Kamera sich an seine Schultern heftet, wenn dazu dieses „Cause I got too much life/ Running through my veins/ Going to waste“ ertönt, wird deutlich, dass diese Energie, dieses Verlangen, dieses Zuviel an Leben ihren Tribut fordern. In der steifen Feuerwehruniform, unter den Epauletten pocht und pulsiert es, und so unbeholfen der Tanz, der daraus rührt, aussehen mag, er lässt doch deutlich werden: Hier geht etwas nicht auf.

Grisebach, Jahrgang 1968, gilt gemeinhin als Vertreterin jenes neuen, entschlackten Realismus, der unter dem Begriff „Berliner Schule“ firmiert. „Sehnsucht“ weist auf eine weitere Wahlverwandtschaft hin. Nicht nur das musikalische Gespür teilt Grisebach mit der 1970 geborenen österreichischen Regisseurin Barbara Albert, deren jüngste Arbeit „Fallen“ gerade im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig zu sehen ist. Beide haben in den 90er-Jahren an der Wiener Filmakademie studiert, beide arbeiten gemeinsam mit dem Kameramann Bernhard Keller, und vor allem gelingt es beiden, große, existenzielle Fragen zu berühren, ohne ihnen Stimmigkeit im Detail, Genauigkeit und erzählerische Ökonomie zu opfern. Das Ergebnis ist ein wunderbar vibrierender Realismus.

„Sehnsucht“, Regie: Valeska Grisebach. Mit Ilka Welz, Andreas Müller, Anett Dornbusch u. a., Deutschland 2006, 88 Min.