Zivilisation und Profit

Die US-Außenpolitik nach dem 11. September zeigt mehr Kontinuitäten als Veränderungen. Ein Essay

Die Politik der USA im Nachkriegseuropa war außergewöhnlich, die von George W. Bush ist es nicht

VON MARCIA PALLY

Amerika ist jetzt, Anfang September, mit den wichtigsten Ereignissen des Jahres beschäftigt: zunächst dem fünften Jahrestag des 11. September und dann den Kongresswahlen im November. Da zurzeit lediglich 29 Prozent der Amerikaner meinen, dass das Land sich in die richtige Richtung bewegt, stehen die Chancen gut, dass die Demokraten die 15 Sitze gewinnen, die für eine Mehrheit im Repräsentantenhaus erforderlich sind. Im Senat wird es wohl für die Republikaner noch mal reichen.

Sollte es tatsächlich zu einer wesentlichen Verlagerung der Machtverhältnisse kommen, kann man damit rechnen, dass sich innenpolitisch einiges ändern wird – weniger dagegen in der Außenpolitik. Denn langfristig gesehen weist die US-Außenpolitik in vielerlei Hinsicht signifikante Kontinuitäten auf. Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, wie viel Geld und persönliches Engagement eingesetzt wurden, um abweichende politische Theorien zu fördern. In diesen Kontinuitäten spiegeln sich die grundlegenden amerikanischen Werte und Denkansätze wider. Wenn man sie betrachtet, kann man am ehesten folgern, welche Außenpolitik Bestand haben wird. Robert Kagan sagte zu Recht im Jahre 2003: „Amerika hat sich am 11. September nicht verändert. Es hat lediglich mehr zu sich selbst gefunden.“

Schon seit der Unabhängigkeit verfolgen die USA nach außen expansionistische Ziele, um sich im Innern zu bereichern. Das ist nichts Besonderes: Die europäischen und asiatischen Mächte taten in ihren jeweiligen Hoch-Zeiten nichts anderes. In Amerika ist der Expansionismus immer mit dem Glauben an Freiheit und Liberalismus, aber auch mit zwei Konfusionen verknüpft: erstens, dass politischer Liberalismus zu wirtschaftlichem Liberalismus führt. Wenn die Menschen wählen können, werden sie für eine Wirtschaft stimmen, die ungefähr so ist wie die in Amerika. Und zweitens, dass wirtschaftlicher Liberalismus zu politischem Liberalismus führt, also freie Märkte letztlich zu einer freien Politik führen.

Diese Sicht auf die Welt zeigte sich bereits in den allerersten Tagen der Nation. Jefferson schrieb 1785: „Unser Volk ist entschieden der Meinung, dass wir uns an der Besitznahme des Meeres beteiligen müssen.“ Dabei geht es um rein ökonomische Interessen. Seit dem Krieg von 1812 zeigt sich das Selbstverständnis der USA eher in den Vorstellungen Andrew Jacksons, der meinte, dass durch die kontinentale Expansion „der Bereich der Freiheit ausgedehnt“ würde. Calvin Coolidge drückte es klar und deutlich aus: „Zivilisation und Profite gehen Hand in Hand.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich das Image der USA als Führer „der freien Welt“. Der Multilateralismus und der Aufbau internationaler Institutionen in jener Zeit werden heute als Schema betrachtet, das die USA wiederaufnehmen können, wenn sie sich von den „ungewöhnlichen“ politischen Strategien der Regierung Bush entwöhnen würden. Dies ist jedoch eine eurozentristische Sicht. Die US-Außenpolitik im Westeuropa nach dem Krieg war zwar brillant, aber nicht normativ. Amerika beteiligte sich an internationalen Institutionen, weil es einen kontrollierenden Einfluss auf sie hatte.

Zudem entwickelte sich Amerikas Nachkriegspolitik in Westeuropa auf der Grundlage der besonderen Rolle, die dieser halbe Kontinent als Partner Amerikas in Bezug auf die liberalen Gedanken der Moderne spielte. Er diente als Puffer gegen die nicht liberalen Sowjets und als Schlüsselmarkt für die USA. Von keiner anderen Region in der Welt wäre zu erwarten gewesen, dass sie so schnell einen Markt aufbauen konnte, der die landwirtschaftlichen und höherpreisigen Industrieprodukte der USA kauft.

Diese Bedingungen gab es nirgendwo sonst auf der Welt, und nirgendwo sonst hat Amerika Nationen aufgebaut. In den Entwicklungsländern spielten wirtschaftlicher Liberalismus und politische Stabilität eine Schlüsselrolle – und zwar sowohl für die wirtschaftlichen Interessen der USA als auch für den Glauben der Amerikaner, dass der globale wirtschaftliche Liberalismus besser sei als seine kommunistischen Alternativen. In den Entwicklungsländern wurden in jüngster Zeit immer eher Demokratien unterstützt, wenn Monarchien oder Diktaturen wackelten – kurz: dort, wo die politische Befreiung anscheinend bessere Aussichten bietet, eine wirtschaftliche Liberalisierung zu erreichen.

Diese Haltung sich selbst und der Welt gegenüber besteht kontinuierlich seit Jefferson und herrscht in beiden US-Parteien vor. Auch die großen Heroen der Demokraten, Roosevelt und Kennedy, vertraten sie. Und Bill Clinton dehnte die Nato aus, um Out-of-Area-Einsätze in Bosnien und dem Kosovo zu ermöglichen, und baute damit ihre Raison d’être in Europa aus. Er verlängerte Chinas Meistbegünstigungsstatus trotz der Menschenrechtsverletzungen im Lande und verhandelte mit den Taliban über eine transafghanische Pipeline, die von der amerikanischen Ölgesellschaft Unocal gebaut werden sollte. Präventivkriege gab es nicht erst seit George W. Bush, sondern bereits unter Calvin Coolidge, als er in Honduras und Nicaragua intervenierte, und 1998, als Clinton Bin Ladens Camp in Afghanistan bombardieren ließ.

So gesehen, erscheint Bushs Außenpolitik in ihrer Rhetorik radikaler als in ihrem Gehalt. Es lässt sich kaum behaupten, dass seine Politik, einschließlich des Krieges im Irak, weiter geht als andere US-außenpolitische Maßnahmen in Entwicklungsländern. Sei es die Unterstützung von Diktatoren in Indonesien und Afrika, seien es Operationen in Indochina, der Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh 1953 oder des chilenischen Staatschefs von Allende 1973 und die ein Jahrhundert währende Unterstützung von Diktatoren in Lateinamerika.

Die Politik der USA im Nachkriegseuropa war außergewöhnlich, die von George W. Bush ist es nicht. Die Mischung aus wirtschaftlichen Interessen und dem Glauben an Amerikas Mission zur – stets wirtschaftlichen, bisweilen auch politischen – Liberalisierung ist der Boden, auf dem die US-Außenpolitik gedeiht. Demokraten wie Republikaner werden sich allmählich aus dem Irak zurückziehen, doch Voraussetzung für eine wirkliche Veränderung der US-Außenpolitik wäre Amerikas Einsicht, dass seine Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen durch Zurückhaltung gestützt werden und dass diese Haltung mit dem Selbstbild der USA als Modell für die Freiheit und deren Überbringer besser vereinbar ist.

Hier geht es nicht darum, zu argumentieren, ob dies nun gut oder schlecht sei, es ist nur unwahrscheinlich. Für einen freiwilligen Verzicht auf geopolitischen Expansionismus gibt es keinen historischen Präzedenzfall aufseiten irgendeiner Macht, es bedürfte eines grundlegenden kulturellen Wandels, um Amerikas Sendungsbewusstsein abzuschwächen.

Übersetzung: Beate Staib