Die Toten rauchen weiter

Ohne Illusionen und Psychologie: Der New Yorker Theateravantgardist Richard Maxwell inszeniert in Bonn eine Geschichte der Auswanderung in die USA – und schafft dabei beinahe das Theater ab

VON DOROTHEA MARCUS

Eine Bühne wie ein vollgestopftes Spielzeugland: Auf amerikanischer Seite drängen sich ausgestopfte Hunde und eine Plastikkuh mit blaugeblümten Flecken. Auf deutscher Seite sieht man eine Zahnarztpraxis, ein Wahrsagerzimmer, eine ärmliche Behausung mit Wänden aus gestapelten Kochtöpfen und einen Strick, der von der Decke baumelt. Dazwischen markiert eine graue Platte den Großen Teich. Die ganze Welt hat der Bühnenbildner Sascha van Riel auf einer Fläche aufgebaut. Alle Schauspieler und Laiendarsteller sind durchgängig auf die Bühne, kein Lichtwechsel lenkt den Blick des Zuschauers. Wer nicht spricht, geht still seinem Alltag nach.

Das gehört zum Konzept von Richard Maxwells experimentellem Wirklichkeitstheater, für das der New Yorker Künstler auch in Deutschland mittlerweile recht bekannt ist. Im Auftrag des Bonner Theaters hat er das deutsch-amerikanische Musical „The Frame“ geschrieben und inszeniert: Alles ist jederzeit gleich wichtig, der Zuschauer im Alltagslicht entscheidet selbst, welcher der Geschichten auf der Bühne er folgt. Ein Vorgang, gegen den sich unwillkürlich Widerwillen einstellt: Man möchte im Theater nicht selektieren müssen, wenn man es schon täglich im Alltag muss. Nur während der eingängigen, countryhaften und oft hinreißenden Songs erinnert „The Frame“ zuweilen an das versprochene Musical und die Leichtigkeit der Unterhaltung – ansonsten ist der Blick über das hell erleuchtete Laienspielfeld anstrengend.

„The Frame“ ist die Geschichte einer deutschen Auswandererfamilie über drei Generationen, die im Jahr 1850 ins gelobte Land Amerika zieht, weil Familienvater Wolfgang aus Geldmangel seinem Zahnarzt die Kehle aufgeschnitten hat und an den Galgen gekommen ist. Es geschehen noch andere traurige Dinge: Nach der Ankunft stirbt die jüngste Tochter Hermenlinda vor Erschöpfung, die Wege der Familie trennen sich. Und als sich Mutter und Sohn nach Jahren wiederbegegnen, erkennen sie sich kaum, so sehr hat sie der Daseinskampf entfremdet.

Doch Emotionen werden auf der Bühne niemals gezeigt – das wäre eine Bühnenillusion, die der Regisseur strikt vermeiden will. Unbeteiligt werden in der Auswanderergeschichte die Toten registriert, „lass uns aufbrechen“, sagt Beruria Mentis einfach nur, als ihr Kind in den Armen eines Amerikaners stirbt. Ohnehin sind die Toten gar nicht tot, sondern wandeln weiter im Bühnenbild umher oder rauchen am Galgen hängend eine Zigarette. Auch die Auswanderung ist kein pathetischer Traum von einem längst vergessenen Amerika, sondern eher eine pflichtschuldige und lakonische Rettung der eigenen Haut – aber das ist schon zu psychologisch gesprochen.

Dass etwa ein Drittel der Texte von in Bonn gecasteten Laienschauspielern gesprochen wird, lässt die Sprache hölzern und lebensfern wirken – obwohl Maxwell sie ihnen im Verlauf der Proben auf den Leib geschrieben hat. Maxwell verweigert entschieden jede Theatralik und Psychologie: Das ist sein Versuch, die Realität auf dem Theater stattfinden zu lassen. Seit über zehn Jahren leitet er die „New York City Players“, mit denen er auch schon auf dem Zürcher Theaterspektakel, den Ruhrfestspielen und der Biennale Bonn zu Gast war – unter anderem mit dem Stück „Showcase“, das in einem echten Hotelzimmer die halbstündige Morgentoilette eines nackten Managers zeigte, zwischen dem intimen Moment des Aufwachens und der Maske des Machers.

Die Schauspieler – mit „mehr oder weniger Bühnenerfahrung“ –, die diesmal eben teils aus Bonn, teils aus New York kommen, sollen so spielen, wie es ihnen gerade zumute ist, keinesfalls so, wie das Theater die Gefühle buchstabiert. Der Titel „The Frame“, der (Bilder)rahmen, ist darauf ein Reflex: Der Abend wirkt wie ein zweidimensionales, ironisches Bildzitat aus vergangener Zeit, das die Künstlichkeit bewusst auf die Spitze treibt. Wie aus einem Kostümfilm des 19. Jahrhunderts getreten, tragen die Schauspieler gestärkte Häubchen oder Gamaschen.

Mit „The Frame“ beschreibt der Regisseur aber auch die Erfahrung der Inszenierung in einer fremden Sprache, die die notwendige Distanz eines Künstlers zur Wirklichkeit verstärkt: Er muss sie in eine Art Bilderrahmen setzen, um daraus ein Werk zu schaffen. Doch letztlich scheitert der Abend an seinen konzeptuellen Vorgaben und daran, dass wir im letzten Winkel unseres Herzens eben doch manipulierbare Musicalliebhaber sind. Theater, das zum reinen Wahrnehmungsexperiment wird, schafft sich letztlich selber ab.