Zwei Hälften in friedlicher Koexistenz

Die Zwillinge treffen sich in Wolfsburg – ein Interessenverein der Klone möchte man denken, um ein nutzloses Back-up der Natur zu präsentieren. Die Bibel und auch die römische Mythologie deuten an, man müsse sich von seiner genetischen Kopie trennen, bevor Großes aus einem werden könne. Zum Teil blutbefleckt, aber erfolgreich schritten Kain, Romulus und Jakob auf ihren Wegen, nachdem sie Abel und Remus unter die Erde und Esau zumindest um das Recht des Erstgeborenen gebracht hatten.

Warum also seinen Zwilling am Leben lassen und ihn auch noch mit auf den Weg nach Wolfsburg nehmen? Warum gleich gekleidet als angejahrtes doppeltes Lottchen mit ihm im ICE oder im Personenkleinwagen sitzen und Zielscheibe bestenfalls alberner Kommentare genetisch nicht replizierter, einzigartiger Mitreisender zu sein?

Ich achte Euch, möchte ich ihnen vom kleinen ICE-Bahnhof meines Städtchens zurufen. Ihr seid in der Wahl eurer identitätsstiftenden Mittel nicht weniger legitimiert als die Fußballfans, Anthroposophen oder Kommunarden dieser Welt.

Ihr seid ein Gegenentwurf zu der allgegenwärtigen Idee, ein geglücktes Leben verlange einen Ehemann oder eine Ehefrau, oder, etwas flotter, eine Lebenspartnerin. Wer dessen noch nicht habhaft geworden ist, gilt als Single mit hungrigen Augen und hoher Telefonrechnung, stetig auf der Jagd nach seiner platonischen Hälfte.

Und wenn sie sich gefunden haben, die Hälften, dann schweigen sie. Angeödet, wie das vormals knutschende Teenagerpaar im Gang, oder mürrisch, wie das Rentnerpaar neben Euch im Speisewagen. Seid nicht traurig. Ihr seid eine Lebensform, die sich nicht auf so gruselige Weise abnutzt. Die nicht mit Trieb beginnt und mit Resignation endet. Weniger glamourös, nicht besungen von den Dichtern. Aber unwandelbar in einer Vertrautheit. Und in einer friedlichen Übereinstimmung, die den anderen so sein lässt, wie er ist.

Zwei Hälften in friedlicher Koexistenz. Und das gibt euch das gute Recht, den Zug nach Wolfsburg zu besteigen, auch gleich gekleidet, wenn es denn sein muss. Anette Gräff