piwik no script img

Archiv-Artikel

Wo der Dichter noch Rhapsode ist

Mit überwiegend frankophoner Literatur auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit: An diesem Wochenende geht das sechste Internationale Literaturfestival in Berlin zu Ende

Der afrikanische Flüchtling, der an der Küste Spaniens, an den Grenzen Europas zurückgewiesen wird und der dennoch verkündet, er werde es wieder versuchen: In seinem Vortrag zur Eröffnung des diesjährigen Literaturfestivals in Berlin hatte der karibische Theoretiker und Erzähler Édouard Glissant diese rasch skizzierte Figur zum Bild des Menschen schlechthin erklärt, „ein Totem, gültig für uns alle“.

Eine Woche später stellte Abdourahman Waberi seinen jüngsten Roman „Aux Etats-Unis d’Afrique“ vor, und ebenso unverhofft wie unaufgeregt bestätigte die sehr ironische Lesung dieses sehr erkälteten Schriftstellers aus Dschibuti Glissants These. Die Vereinigten Staaten von Afrika sind in Waberis Politsatire eine prosperierende Hegemonialmacht, die Weltgesundheitsorganisation ist ebenso wie die Kultur, die internationale Politik und die modernsten Technologien fest in afrikanischer Hand. Währenddessen sind die nördlichen Kontinente Amerika und Europa durch Kriege, ethnische Konflikte und materielle Not in einen immer hoffnungsloseren Zustand geraten – ohne die vollen Kornspeicher Äthiopiens wäre in diesen heruntergekommenen Gegenden schon lange kein Überleben mehr möglich. Jetzt allerdings muss man in den Vereinigten Staaten von Afrika befürchten, sich der herandrängenden Flüchtlingsströme aus dem Norden bald nicht mehr erwehren zu können.

Glissants rhapsodisch vorgetragene Rede mit ihrer Figur des Flüchtlings als Emblem für den Menschen schlechthin und Waberis augenzwinkernde Lesung über eine kopfstehende Welt – das sind zwei Momente eines Literaturfestivals gewesen, das auch in diesem sechsten Jahr seines Bestehens bewusst einen politischen Anspruch formuliert. Und in beiden Fällen funktioniert das mit diesem Anspruch, weil er sich nicht in den Vordergrund drängt. Weil die Literatur nicht einfach bloß zum Mittel zum Zweck degradiert wird, sondern sich ihrer eigenen Gesetze und Möglichkeiten sehr bewusst bleibt. Die funkelnde Ironie bei Waberi, die magischen Metaphern bei Glissant – das sind Mittel des Ausdrucks, die vielleicht gerade im mündlichen Vortrag erst ihre ganze Wirkungskraft entfalten. Das ist vielleicht das Erstaunliche: dass in solchen Augenblicken das Konzept dieses Literaturfestivals wirklich aufgeht.

Denn eigentlich: Warum sollte man, auch wenn man sich für Literatur interessiert, überhaupt zu Lesungen gehen? Woher kommt das Interesse für Veranstaltungen, bei denen ein Autor mehr oder weniger anschaulich aus seinen eigenen Texten liest, und das auch noch häufig in einer Sprache, die dem Publikum nicht geläufig ist? Warum möchte man hören, was einem Moderator an Fragen einfällt zu einem Buch, das man selbst meistens nur aus den präsentierten knappen Ausschnitten kennt? Und doch: In den besten Momenten, in solchen wie bei Glissant und Waberi, da funktioniert es. Und vielleicht liegt das einfach an einer gewissen nostalgischen Sehnsucht, die gerade moderne Großstadtbewohner bevorzugt überfallen mag – der Sehnsucht danach, Literatur in Gemeinschaft und so direkt zu erleben, wie sie sich vermutlich vor dem Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit präsentiert hat.

Wo der Dichter noch Rhapsode ist, kann das Publikum seine eigene Unbehaustheit und die „transzendentale Obdachlosigkeit“ vergessen, die Georg Lukács schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts im modernen Roman ausfindig gemacht hatte. Und wenn das so ist, dann verwundert es nicht, dass sich das Berliner Literaturfestival in diesem Jahr gewissermaßen auf die Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit begeben hat – und dass es diese zum Teil, wie bei Édouard Glissant, wie bei Abdourahman Waberi, auch gefunden hat. Denn die Unmittelbarkeit sucht man am besten dort, wo die Schriftsteller noch „Nomaden, Propheten, Barbaren“ sind, und deshalb hat sich das Festival in diesem Jahr in einem großen thematischen Schwerpunkt der frankophonen Literatur aus der Karibik und aus Afrika zugewandt. „Nomaden, Propheten, Barbaren“ – das war der Titel der ersten von drei großen Lesungen mit Autoren aus diesem Raum der Frankophonie gewesen. Hier suchte man mit Schriftstellern wie Hélé Beji aus Tunesien oder Rachid Boudjedra aus Algerien die Spuren von „Maghrebinischen Essenzen“ und erhoffte sich dabei Unterstützung von den musikalischen Zäsuren, die der Oud-Spieler Mourad Sakli setzte. Dennoch – wenn sich die maghrebinischen Autoren vorsichtig gegen diese Art der Vereinnahmung unter dem Signum des Fremden und Exotischen zur Wehr setzten, so ging das Konzept vom Dichter-Sänger doch wenigstens zum Teil an den beiden anderen großen Frankophonie-Abenden auf.

Da ging es einmal auf die „Inseln über dem Wind“, in die Karibik also, und dann schließlich noch tief ins Herz von Afrika – zu den „Marabuts und Sonnenkönigen“, unter denen auch Abdourahman Waberi seinen Platz hatte. Und hier wie dort, in der Karibik wie in Afrika, kreisten die Lesungen und Gespräche immer wieder um die Musik, fast als wäre diese nicht etwas Eigenes, sondern so etwas wie ein genuiner Bestandteil der Literatur, etwas, aus dem eben alle guten Geschichten schöpfen. So sprach Daniel Maximin aus Guadeloupe bei dem karibischen Abend über die Möglichkeiten der Freiheit, die der Musik innewohnten: Die Musik sei die Antwort auf das, was der rein sprachliche Diskurs manchmal verdeckt, und insbesondere in der kolonialen Wirklichkeit der Karibik sei sie für die Sklaven eine Möglichkeit gewesen, die von den Kolonialherren und deren klassischer Musik vorgegebenen Bahnen in einem schöpferischen Akt zu verlassen und etwas Neues, Eigenes zu schaffen. „Frei sein heißt beweisen, dass man erfinden kann“, sagt Maximin, der deshalb auch überhaupt kein Problem damit hat, seine Bücher auf Französisch und also in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren zu schreiben.

Um die Beziehung zwischen Sprache und Musik ging es schließlich auch bei der Lesung von Henri Lopes aus dem Kongo, der den afrikanischen Abend einleitete. Der afrikanischstämmige Protagonist seines Romans „Dossier classé“ benutzt die Musik, die er bei seiner Rückkehr nach Afrika hört, zum „Entziffern des Landes“, das ihm fremd geworden ist. Erst die Musik wird hier zur Sprache im eigentlichen Sinne, erst durch sie ist überhaupt Verstehen möglich. Zu Beginn seiner französischsprachigen Lesung hatte Henri Lopes das Publikum gebeten, sich auf den Klang dieser „schönen Sprache“ einzulassen, auch wenn man ihrer nicht mächtig sei. Hier soll also umgekehrt die Sprache wieder zu Musik werden – und tatsächlich: keine Spur mehr von transzendentaler Obdachlosigkeit! ANNE KRAUME