Jeder Absturz ein Ikarus-Moment

ANGST Verschollen. Boeing 777. Flug MH370. Es bleibt nur Ungewissheit. Die Suche nach Antworten grenzt an Realitätsverdrängung und Hoffnung wider jede Wahrscheinlichkeit

Manche müssen bei Flugzeugunglücken an Ikarus denken, den Übermütigen, der zu hoch flog und abstürzte, weil die Sonne das Wachs schmelzen ließ, mit dem die Federn auf seinen Flügeln befestigt waren

VON DAVID DENK

Seit nun fast zwei Wochen ist Flug MH370 verschollen. Nach einem letzten „All right, good night“ aus dem Cockpit bei Verlassen des malaysischen Flugraums verschwand die Boeing 777 eine Stunde nach dem Start von Kuala Lumpur nach Peking vom Radar. Weg. Einfach weg. Spurlos.

Wie kann es sein, dass ein solcher Koloss mit 239 Menschen an Bord verschwindet wie eine Münze in der Sofaritze? Wobei der Vergleich natürlich hinkt: Die Wahrscheinlichkeit, dass man die Maschine wiederfindet, ist ungleich geringer und sinkt mit jedem Tag weiter. 7,68 Millionen Quadratkilometer umfasst das Suchgebiet. Das entspricht der Fläche Australiens. Und doch kursieren unverdrossen weiter Szenarien, bei denen der Wunsch Vater des Gedanken ist: der Wunsch, dass es gar kein Unglück gibt. Oder nur ein vergleichsweise kleines. Dass Passagiere und Crew auf einer einsamen Insel gestrandet sein könnten, wie in der US-Serie „Lost“. Eine Art Happy End. Hauptsache, sie sind am Leben. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Flugzeug zu verunglücken, ist verschwindend gering: Von weltweit etwa 3 Milliarden Passagieren pro Jahr sterben selten mehr als 1.000, meistens eher die Hälfte. Bei deutlich zunehmendem Fluggastaufkommen sinkt die Zahl der Toten seit Jahren stetig. Das Risiko mag kleinzukriegen sein, die Angst ist es nicht: Gerade weil ein Crash so selten vorkommt, ist die Furcht so groß. Klingt paradox, Irrationalität gehört aber zum Wesen der Angst. Oder warum steigen so viele Menschen mit schweißnassen Händen in ein Flugzeug, während kaum jemand angespannt in sein Auto steigt?

Jedes Flugzeugunglück hat etwas Monströses – wegen der geringen Überlebenschance und weil sich niemand die letzten Minuten an Bord einer abstürzenden Maschine vorstellen kann und will. Der bei Wikipedia veröffentlichte Stimmenrekordermitschnitt des 2009 verunglückten Air-France-Flugs 447 jagt dem Leser einen Schauer über den Rücken. Alle, die hier sprechen, sind kurze Zeit später tot. Mehr als die Hälfte der 228 Leichen wurden nie geborgen.

Manche mit der griechischen Mythologie Vertraute müssen bei Flugzeugunglücken an Ikarus denken, den Übermütigen, der zu hoch flog und abstürzte, weil die Sonne das Wachs schmelzen ließ, mit dem die Federn auf seinen Flügeln befestigt waren. Die Überwindung der Schwerkraft, obwohl physikalisch einfach erklärbar, kommt vielen auch heute noch wie ein Wunder vor, manchen gar wie eine Anmaßung – gehören Menschen da oben wirklich hin? Für diese Zeitgenossen ist jeder Absturz ein Ikarus-Moment, keine Strafe der Götter vielleicht, aber ein Warnschuss wider die Forschheit des Menschen – woher auch immer.

Waren die Passagiere bei Flug MH370 ihren Piloten und dem Schicksal ausgeliefert, so wiederholt sich dieses Gefühl der Ohnmacht nun bei den Angehörigen am Boden. Der angekündigte Hungerstreik chinesischer Verwandter ist ein Verzweiflungsakt – etwas tun, obwohl man nichts ausrichten kann. Die Ungewissheit muss nervenzerfetzend sein. Offiziell ausgeschlossen wird bislang wenig: Sowohl Sabotage als auch eine Entführung, einen Terroranschlag oder den Suizid eines der Piloten halten die Ermittler als Grund des Verschwindens für möglich.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer war eine mittlerweile vom Militär dementierte Meldung: Mehrere Bewohner einer Malediveninsel wollen am Tag des Verschwindens von MH370 einen tieffliegenden Passagierjet gesehen haben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.