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Archiv-Artikel

Wählen? Ja, was denn?!

Morgen sollen Bürger in Mecklenburg-Vorpommern einen neuen Landtag wählen. Aber die Mehrheit verweigert sich. Wie Demokraten um Stimmen kämpfen – für ein Ja zur Wahl

Die Mehrheit verweigert sich. Man hat eine Stimme, aber nicht das Gefühl, als hätte man die WahlWahlrecht? Niemand zählt das zu seinem Besitz. Obwohl es alle erst vor 16 Jahren bekommen haben

VON NADJA KLINGER

37. Vor Wochen war die Zahl plötzlich da. Sie stand im Spätsommer, der auflandige Wind trieb Wolken über sie hinweg. Die Zahl war keine richtige Zahl, nur Prognose. Sie hat großen Schrecken bereitet. Umfragen hatten ergeben, dass nur 37 Prozent der Bürger von Mecklenburg-Vorpommern am Sonntag wählen wollen. Der Rest weigert sich. Man hat eine Stimme, aber nicht das Gefühl, als hätte man die Wahl.

Unzählige Menschen haben das Bundesland verlassen. Nach der DDR wurde es immer schwerer, hier den Lebensunterhalt zu verdienen. Das Land der Fischer und Kapitäne, der Bauern, Jäger und Schiffbauer ging in die Statistik der Bundesrepublik ein, belegte dort sagenhafte Plätze: Hier leben die wenigsten Menschen und die prozentual meisten Arbeitslosen. Mehrmals machte man vom Wahlrecht Gebrauch. Man wählte sich die PDS in die Regierung. Solch Wahlverhalten ist in der Bundesrepublik unüblich. Es wird mit Verachtung und Herablassung bestraft. Aber nicht mehr lange. Denn die Wähler verschwinden jetzt einfach.

Das Verschwinden hat Risiko und Nebenwirkung. Die NPD, die mit Parolen Stimmen sichert, könnte es in den Schweriner Landtag schaffen. Das Verschwinden ist gefährlich. Absurderweise hat es Mecklenburg-Vorpommern Aufmerksamkeit verschafft wie lange nicht mehr.

In 129 Dörfern haben Sozialdemokraten in den letzten Wochen an Haustüren geklingelt. „Ich kam mir vor wie ein Staubsaugervertreter“, sagt einer der Genossen. Die Anwohner ließen ihn abblitzen. Sie sprachen von Geld. Von steigenden Preisen, knappem Einkommen, der Mehrwertsteuererhöhung. „Trotzdem sollten Sie Ihr Wahlrecht nicht aus der Hand geben“, erwiderte der Mann. Wahlrecht? Niemand zählte das zu seinem Besitz.

In Neubrandenburg hat Sylvia Bretschneider vor vier Jahren so viele Stimmen bekommen, dass sie mit Direktmandat in den Landtag zog. Sie wurde Parlamentspräsidentin. Sie ist sportlich, trägt die blonden Haare kurz und eine dekorative Brille. Sie ist, wie sie sich ihre Heimat wünscht: wie ein Stein im Wasser, der der Brandung standhält. Sie wurde 1960 in Waren an der Müritz geboren, war Lehrerin, hat drei Töchter, einen Mann, einen Hund, eine Katze, eine Joggingstrecke durch den Wald und einen prallen Terminkalender. Wie ihre Landsleute ist sie eher verschlossen. Doch anders als viele lässt sie sich von Ereignissen, die sie umspülen, mitreißen. Erst kürzlich vom Ehemann, dem Fußballfan. Sylvia Bretschneiders Auto war das einzige Landtagsfahrzeug, das während der WM mit Deutschlandfahne am Fenster fuhr. Dieser Tage treibt sie die Zahl 37 um. Der Gedanke, am Montag für die Rechten das Schweriner Schloss aufzuschließen, bringt sie aus der Fassung. „Fahren Sie nicht so dicht auf!“, herrscht sie ihren Fahrer an, der auf der linken Spur über die Autobahn drängelt. Sie klammert sich am Sitz fest. Wie, bei allem Frust, können ihre Mitmenschen auf das Wahlrecht verzichten, das sie erst vor 16 Jahren bekommen haben? „Ich bin doch da“, erwidert der Fahrer nach seinem Manöver. Bretschneider bremst lieber selber.

Im Aktenkoffer, der zwischen ihren Füßen steht, steckt der Wahlaufruf an die Bürger, den sie entworfen hat. „Arbeitslosigkeit und soziale Probleme stellen Demokraten vor große Herausforderungen“, heißt es im Papier. „Einfache Lösungen gibt es nicht.“ Sie hat die Presse zusammengeholt, Unternehmer, Künstler, Sportler gebeten zu unterschreiben. Die Schauspieler Iris Berben, Henry Hübchen und Katrin Saß, Zehnkampf-Olympiasieger Christian Schenk, Landesrabbiner William Wolf und Prof. Dr. Horst Klinkmann, Chef von BioCon Valley in Greifswald, gehören zu den Erstunterzeichnern. Der Wahlkampf veränderte sich. Abgeordnete aller Parteien sammelten Unterschriften im Land. Sie haben 1.569 zusammen.

Auch Sascha Gluth bekam Post von Sylvia Bretschneider. Besser als seine Unterschrift wäre ein Bild von ihm gewesen. Der 36-Jährige hat das Gesicht des kämpferischen Mecklenburg-Vorpommern. Schon den fünften Sommer spielte er Klaus Störtebecker auf der Naturbühne Ralswieck, Insel Rügen. 360.000 Menschen von überall her sahen das Spektakel mit 130 Schauspielern und Statisten dieses Jahr. „Wir sollen also wählen?“, haben Statisten den Hauptdarsteller gefragt. „Ja, was denn?“ Sie waren Lehrer, Busfahrer, Hartz-IV-Empfänger, Rentner. „Vergesst die Parteien! Schaut Euch nach Leuten um, es gibt Politiker, denen Ihr vertrauen könnt!“, hat er geantwortet. Die Statisten beobachteten, wie er redete und redete. Vertrauen ist der Ausweg. Aber man muss danach suchen. „Der Blick übern Tellerrand“, sagt Sascha Gluth, „ist meinen frustrierten Landsleuten nicht vergönnt.“

Sylvia Bretschneider sagt: „Wir haben viel geschafft.“ Im Land gibt es Lehrstellenförderprogramme. Firmen siedeln sich an. „Meck-Pomm“ ist das beliebteste deutsche Reiseziel. Hier stehen die meisten Fünfsternehotels, die Sonnenscheindauer ist hoch. Politiker wie Sylvia Bretschneider bemühen sich. Sie versuchen aufzupassen, dass 1-Euro-Jobs nicht reguläre Arbeitsplätze ersetzen. Der Unsitte, geförderte Lehrlinge Arbeit verrichten zu lassen, für die eigentlich jemand eingestellt werden müsste, wollen sie einen Riegel vorschieben. Politiker sind Politiker. Auch Sylvia Bretschneider ist in Mecklenburg-Vorpommern nicht gerade beliebt.

Von einem roten Nylonbeutel, den ihre Partei als Werbung verteilt, hat sie die Henkel abgeschnitten. Ein Stück Stoff blieb übrig. Es steckt jetzt auf dem Stab, der zur WM die Deutschlandfahne hielt. Wenn sie nicht den Dienstwagen nimmt, fährt sie stolz mit einer kleinen SPD-Fahne durchs Land. Und wenn der Bundesfinanzminister in Berlin sagt, dass die Deutschen gefälligst sparen und auf Urlaubsreisen verzichten sollen, dann kann sie sich, sobald sie irgendwo aussteigt, frisch machen.

Vier Jahre lang gingen in ihrem Landtagsbüro Briefe ein, in denen die Leute über Baukostenanträge klagten. Darüber, dass Straßen aufgerissen wurden oder Parkplätze verschwanden. Sie ist für so was nicht zuständig. Hat die Post geduldig weitergereicht. „Ich will zeigen, wie’s geht“, sagt sie. Wollen die Leute das wirklich wissen?

Sie hat sich ein Quiz ausgedacht, verteilt es auf den Straßen. Zehn Antworten müssen die Leute geben, dann können sie einen Besuch des Landtags und Karten für den FC Hansa Rostock gewinnen. Wie heißt der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern? Wann findet die nächste Landtagswahl statt? Die Fragen sind peinlich. Manche Leute versuchen sich gleich auf der Stelle daran. Dann kommt bei Sylvia Bretschneider die Lehrerin durch. Sie stellt sich zu ihnen und hilft.

„Machen Sie, dass sich im Land was ändert!“, sagen die Menschen zu Klaus Wenzel. Er ist Direktor des riesigen Hotels „Neptun“ am Strand von Warnemünde. Wenn sein Haus voll ist, geht es auch Gaststätten und Läden im Ort gut. Das „Neptun“ hat den vierten Besitzer seit der Wende. Ein Amerikaner war da, ein Libanese, ein Mann aus Köln. Jetzt gehört es einem Hamburger. Kaufen und verkaufen – das ist die ostdeutsche Küste für fremde, reiche Männer. Der Direktor und seine 270 Mitarbeiter halten diesem Gebaren stand. Wenzel macht viel, sehr viel sogar. „Aber ich bin Gastgeber, kein Politiker“, antwortet er den Landsleuten. Wenn Rechte durch Warnemünde ziehen, drohen ihm die Hotelgäste, nie wiederzukommen. Er hat den Aufruf unterschrieben, bittet alle Leute, die er trifft, zu wählen. Er ist unsicher, ob sie ihn erhören. „Politik wird nicht als Demokratie wahrgenommen“, sagt er.

Er wuchs auf Rügen auf. Im Dorf gab es zwölf Fischer, urige Typen, die rackerten. Der letzte hat den Job jetzt aufgegeben, kann Dieselkraftstoff und Netze nicht mehr bezahlen. „Ein Landstrich lebt nicht, wenn er nur mit Arbeitslosengeld versorgt ist“, sagt Klaus Wenzel. Seine Heimat verliert ihren Charakter. „Mecklenburg-Vorpommern ohne Küstenfischer, das hat es seit hunderten von Jahren nicht gegeben.“

Sylvia Bretschneider steht in Neubrandenburg an einer Straßenecke. Sie trägt einen feinen Hosenanzug. Es regnet und stürmt. Sie müsste frieren. Aber der Wahlkampf hat sie wetterfest gemacht. Auch was ihre Mitmenschen betrifft, ist sie abgehärtet. Sie starren zu Boden, wechseln die Straßenseite, sobald sie die Frau Präsidentin unterm roten Schirm stehen sehen. Es gelingt ihr, Vorbeigehenden einen Kugelschreiber oder einen Chip für Einkaufswagen zu schenken. Überall steht SPD drauf, aber das ist egal.

„Bitte, gehen Sie wählen!“, sagt sie. Besuche bei Vereinen, Organisationen, Firmen und der Stand auf der Straße sind des Wahlkämpfers einzige Chance in Mecklenburg-Vorpommern. „Die Menschen kommen nicht auf Großveranstaltungen“, sagt Sylvia Bretschneider. Heute war sie in Schwaan. Die Fischfabrik dort ist 100 Jahre alt. Selbst Kompetenz und Tradition erleichtern das Überleben auf dem Einzelhandelsmarkt nicht. Kunden senden Briefe, weil sie die Produkte im Laden nicht finden. Einmal im Jahr ist „Heringsmarkt“ vor der Fabrik. Jeder Gast kann Brathering essen, bis er platzt. Es kommen stets 5000 Leute.

Tage vor der Wahl sitzt Sylvia Bretschneider bei einem Neubrandenburger Radiosender. Die Zahl 37, so die Nachricht der letzten Tage, ist bei Umfragen über 40 gestiegen. Im Studio fragt man die Landtagspräsidentin nach der Verwaltungsreform. Sie erklärt, warum Stellen abgebaut werden müssen. Sie spricht gedämpft, irgendwie anders, als wenn sie die Menschen zur Wahl bittet. Unter ihre Worte legen die Radioleute Musik. „Das alte Försterhaus, dort wo die Tannen stehn“, tingelt es über den Äther, „das hat jahrein, jahraus, viel Freud und Leid gesehn.“