: Rio von oben
Mitten in einer Favela empfängt eine kleine Pension in Rio de Janeiro Gäste aus aller Welt. Sie ist ein gewöhnungsbedürftiger, weil verschriener Ort. Und doch eine Pension in ruhiger Lage mit einem hervorragendem Blick auf die Stadt
VON DAVID KLAUBERT
Leises, monotones Brummen. Der Lärm, die Hektik, das Chaos der Großstadt: ein bedrohliches Grollen in der Ferne. Immer wieder hallt gedämpftes Hupen, heulen Polizeisirenen durch die fernen Häuserschluchten. Die grauen, ausgebleichten Wohnblöcke drängen sich auf dem schmalen Streifen zwischen den dunkelgrünen Hügeln und dem tiefblauen Wasser. 10-stöckig, 15-stöckig, 20-stöckig: Alle streben ruhelos nach oben. Und doch bleiben sie unten – „unten in der Straße, unten auf dem Asphalt“, wie es oben heißt. Oben auf den Hügeln, wo die Favelas sind, die Viertel der Armen.
„Ich geh nicht gerne runter in die Straßen“, sagt Andreia. „Das ist mir zu hektisch, zu laut, zu eng.“ Sie lässt ihre Füße baumeln, sitzt gemütlich auf dem breiten weißen Balkongeländer ihrer kleinen Pension. „Hier oben ist so ein schöner, ruhiger Ort. Keine Autos, keine Motorräder.“ Seit gut zwei Jahren wohnt die 31-Jährige in der Favela „Pereira da Silva“ in Rio de Janeiro. Ursprünglich stammt sie aus Südbrasilien, hat zwischenzeitlich ein paar Jahre in Berlin gelebt. „Aber im Winter habe ich in Deutschland Depressionen bekommen. Diese Kälte und die dunklen Tage habe ich nicht ausgehalten.“ Zurück in Brasilien baute Andreia, unterstützt von ihrem deutschen Exmann, eine kleine Pension mit fünf Gästezimmern mitten im Armenviertel Pereira da Silva.
„Pereirão“, wie die Bewohner sagen, liegt wie so viele Favelas Rio de Janeiros an einem der steilen Hügel im Herzen der Stadt – und ist doch weit weg vom Glamour, vom Reichtum, von den Touristenströmen und dem Tumult der Metropole. Viele erklärten Andreia und ihre Pläne für verrückt. Doch die Gäste, die seit einem Jahr aus aller Welt kommen, machen ihr Mut. „Von hier oben gefällt mir die Stadt besser als von unten.“ Brigitte aus Berlin macht es sich auf dem Balkon bequem – so bequem es auf dem dunkelbraunen Holzhocker geht – und schlürft langsam an ihrem Caipirinha. Unten gehen gerade die ersten Lichter an, zuerst vereinzelt, dann immer mehr, bis ein bunt strahlendes Lichtermeer entsteht. Dahinter erhebt sich vor dem dunkelblauen Himmel ein riesiger, kahler Felsen: der Zuckerhut, das Wahrzeichen der Stadt. Die seltsam runde Spitze mit der beleuchteten Seilbahnstation wird von einer weißen Wolke bedeckt. Brigittes Mann Rainer versucht die Aussicht mit seiner Videokamera einzufangen.
Am ersten Tag fanden Brigitte und Rainer ihre Unterkunft in Rio mehr als gewöhnungsbedürftig: „Wir waren geschockt“, erinnert sich Brigitte. „Erst hat der Taxifahrer nicht hergefunden und immer nur gerufen: ‚Oh my God. Here?‘ Und dann mussten wir zu Fuß vom Taxi hierher, auf einem Weg, der kein wirklicher Weg ist. Da hatten wir schon ein mulmiges Gefühl.“ Jetzt nach vier Tagen finden sich Brigitte und Rainer im Gassengewirr der Favela bereits gut zurecht. Da auf beiden Seiten der Pereira da Silva atlantischer Regenwald die Hügel überzieht, gibt es nur zwei Wege, um die Favela zu betreten und zu verlassen: unten durch das Viertel Laranjeiras oder oben über Santa Teresa.
Der Weg von Andreias Pension zum oberen Ausgang ist kurz und steil. Auf einem betonierten Pfad geht es vorbei an kleinen, zweistöckigen Backsteinhäusern mit dunkelblauen Fensterläden und schiefen Wellblechdächern. Nur die hintere Hälfte der Häuser kauert eng am abschüssigen Hang, der vordere Teil schwebt auf Betonpfeilern fast zwei Meter in der Luft. Drei enge Serpentinen weiter verkauft Ynajara im Laden ihres Onkels Lebensmittel. Bohnen, Reis, Kaffee, Kekse. Tüten, Dosen, Schachteln, Flaschen – die schmalen Regale in dem winzigen Raum reichen bis unters Dach – ein kleiner Supermarkt. Ynajara lehnt auf der gläsernen Ladentheke und schenkt sich einen Schluck Rotwein ein – aus der Dose. Ihre Freundin Monique, die als Hausmädchen arbeitet, hat ihn zum Probieren und gemütlichen Plaudern vorbeigebracht. „Seit Andreia ihre Pension eröffnet hat, kommen auch immer wieder Touristen hier einkaufen“, erzählt Ynajara. „Große Verwunderung herrschte anfangs bei vielen Bewohnern der Favela“, erinnert sich Monique. Verwunderung über die bleichen „Gringos“, die sich auf einmal mit schweren Koffern und riesigen Rucksäcken in den Gassen der Favela verlaufen. „Aber vor allem die Kinder haben sich schnell daran gewöhnt und führen die verirrten Touristen nun einfach zurück zur Pension“, sagt Monique.
Kurz hinter Ynajaras Laden geht es bergab – an einer hohen grauen Mauer entlang bis zur Straße. Am Hang gegenüber versteckt sich hinter Bäumen und Sträuchern ein Polizeiposten. Mit Pistolen und Gewehren bewaffnet überwachen mehrere Polizisten rund um die Uhr den Zugang der Favela. So sollen die Drogenbanden, die einen Großteil der Favelas in Rio de Janeiro unter ihrer Kontrolle haben, ferngehalten werden. Bis vor sechs Jahren war auch Pereira da Silva ein wichtiger Umschlagplatz für Drogen, vor allem Kokain. Schwer bewaffnete Banditen, rücksichtslose Polizisten, Schießereien und Bandenkriege terrorisierten die Bewohner. Auch als die Polizei in einer mehrmonatigen Aktion die Favela besetzte und den Drogenboss tötete, gab es viele unschuldige Opfer. Nério, der Sohn von Andreias Nachbarin Deusa, kam dabei ums Leben.
Morgens um sechs Uhr hatte die Krankenschwester damals ihren sechzehnjährigen Sohn zum Gaskaufen geschickt. Unterwegs wurde Nério von Militärpolizisten gefangen genommen. Später fand man seinen toten Körper übersät mit Spuren von Folter. „Polizei tötet Drogendealer“, hieß es in den Fernsehnachrichten und den Zeitungen.
Für die Version der gebrochenen Mutter interessierte sich niemand. „Sie hat den Tod ihres Sohns nicht verkraftet und gibt sich selbst die Schuld daran“, erzählt Andreia und blickt von ihrem Balkon, wo unter dem Bananenbaum und hinter allerlei Gestrüpp das Dach von Deusas Haus zu sehen ist – heruntergekommen und verwildert. Seit dem Tod ihres Sohns arbeitet Deusa nicht mehr. Sie lebt von einer mickrigen staatlichen Unterstützung.
„Heute ist die Favela Gott sei Dank sicher“, sagt Andreia. „Auch meine Gäste können hier Tag und Nacht durchlaufen, ohne dass etwas passiert. Überfallen werden Touristen unten in Copacabana und Ipanema, aber nicht hier.“ Mehr als dreihundert Gäste aus aller Welt haben bisher in Andreias Pension übernachtet. Brasilianer waren fast keine darunter. „Hier im Land sind die Vorurteile gegenüber den Favelas zu groß“, erklärt Andreia. „Viele setzen Favela gleich mit Elend, Hunger und Verbrechen.“ Auch Andreias Familie aus Südbrasilien war noch nie zu Besuch in Rio de Janeiro – ihre Mutter will nicht in die Favela.
Während Andreia nachdenklich über die Favela nach unten blickt, kommt Artur auf den Balkon. Er ist neun Jahre alt, der Sohn von Cristina, die Andreia bei der Arbeit in der Pension unterstützt. Artur kommt oft in die Pension, denn nach der Schule gibt es in der Favela für Kinder nicht viel zu tun. „Das ist ein großes Problem“, sagt Andreia. „Die Kinder hängen herum, gehen in andere Favelas und kommen dort mit dem Drogenhandel in Berührung.“ Deshalb träumt Andreia davon, ein Kulturzentrum für Kinder einzurichten. Artur, der auf dem Balkon mit kaputten Plastikautos spielt, träumt davon, in eine Fußballschule zu gehen und später für seinen Lieblingsverein „Flamengo“ zu spielen. Dafür würde er auch runter auf die Straße gehen. Wohnen will Artur aber lieber hier oben. „Es ist viel zu gefährlich in einem Hochhaus“, sagt er nachdenklich. „Da kann zum Beispiel der Aufzug stecken bleiben.“ Er blickt hinunter auf das ruhelose Häusermeer und schüttelt den Kopf.