: „Niemand darf ins Nichts fallen“
INTERVIEW MAX HÄGLER UND HANNES KOCH
taz: Herr Glück, in Ihren Entwürfen zum neuen Grundsatzprogramm der CSU kritisieren Sie die Ellbogengesellschaft. Ist der Marktradikalismus zu mächtig geworden?
Alois Glück: Politik und Wirtschaft haben sich in den vergangenen 15 Jahren zu einseitig am Mechanismus des freien Marktes orientiert. Ein klassisches Beispiel war der Rauschzustand der New Economy, bei dem auf spekulative Art Milliarden Euro vergeudet wurden. Der Markt allein bringt keine zukunftsfähige Gesellschaft, schon gar nicht eine gerechte. Das Ergebnis der Bundestagswahl hat gezeigt, dass die Bürger Veränderung nur dann bereitwillig mitmachen, wenn eine gute Verbindung von ökonomischer Dynamik und sozialer Verantwortung zu erkennen ist.
Von Lebenslügen der Union spricht Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Niedrigere Steuern würden nicht unbedingt mehr Jobs bedeuten. Teilen Sie diese unternehmenskritische Sicht?
Natürlich führen Steuersenkungen alleine nicht dazu, dass Arbeitsplätze entstehen. Aber Jürgen Rüttgers hat seine Aussage so zugespitzt, dass sie leicht missverstanden wird. Damit nicht zu viele Firmen nach Österreich abwandern, braucht Bayern beispielsweise konkurrenzfähige Steuersätze. Deswegen halte ich die Entweder-oder-Diskussion für falsch. Unser Land wird nur gedeihen, wenn es neue Leistungskraft entwickelt.
Hartz IV soll unter bestimmten Bedingungen um 30 Prozent gekürzt werden, schlagen die Wirtschaftsberater der Bundesregierung vor. Lässt sich die Leistungsbereitschaft erhöhen, indem man den Menschen mit Verarmung droht?
Im Gefüge unserer Arbeitsmarktpolitik stimmt einiges nicht. Man muss den Mut haben, das auch zu ändern. Ob diese Änderung dazu gehört, muss sorgfältig geprüft werden.
Indem der Staat die Arbeitslosen unter das offizielle Existenzminimum drückt?
Das wäre nicht akzeptabel. Wahr ist aber auch, dass manche Bürger sich nicht selbst aufmachen, um Arbeit zu suchen. Denn das Arbeitslosengeld II liegt ähnlich hoch wie der Lohn, den sie durch Beschäftigung erzielen könnten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Anreiz zur Arbeitsaufnahme in vielen Fällen zu schwach ist.
345 Euro pro Kopf und Monat sind dann zu viel?
Das ist gewiss nicht viel. Eine Rolle spielen dabei auch die von Region zu Region unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in Deutschland. Ich warne aber vor einem falschen Eindruck: Das CSU-Konzept des Sozialstaates besteht nicht primär aus Kürzungen. Der Kern ist die Verbindung von Leistung und Solidarität. Dazu gehört, dass dem Einzelnen dort geholfen werden muss, wo er sich nicht selbst helfen kann. Niemand darf ins Nichts fallen.
Grundsätzlich wünschen Sie sich aber, dass der Wohlfahrtsstaat zurückgedrängt wird. Warum?
Gibt es irgendein Problem, wird zuerst gefragt: Wo ist die zuständige Organisation? Das gilt nicht nur für Sozialleistungen. Diese Einstellung lähmt die Menschen und hält sie davon ab, sich selbst zu bemühen. Die CSU plädiert dafür, den Sozialstaat neu zu konzipieren. Im Zentrum unseres Programmes steht die solidarische Leistungsgesellschaft.
Kommen dann mehr oder weniger Menschen in den Genuss sozialer Leistungen?
Wir werden uns mehr auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren müssen. In manchen Fällen muss auch das Niveau der staatlichen Unterstützung sinken.
Dabei verlieren die Bürger Ansprüche, die sie durch eingezahlte Sozialbeiträge erworben haben. Ist das gerecht?
Die jetzigen Regelungen für langjährige Beitragszahler in die Arbeitslosenversicherung sind ungerecht. Aber es geht um mehr. Welches Verständnis von Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt des politischen Konzepts? Bisher war es die Verteilungsgerechtigkeit. Der Sozialstaat sollte die Menschen aber befähigen, ihr Leben selbst zu gestalten. Das verstehe ich als Chancengerechtigkeit. Bei gleicher Anstrengung und Leistungsfähigkeit muss jeder die gleiche Chance etwa auf einen Bildungsabschluss und einen Arbeitsplatz haben, unabhängig von sozialer und kultureller Herkunft. Dann hat der Staat die Bringschuld, durch entsprechende Rahmenbedingungen Chancen zu eröffnen, und der Bürger die Bringschuld, sich anzustrengen.
Wer Hartz IV weiter absenken will und die Betroffenen damit zwingt, schlechteres Essen zu konsumieren und weniger auf ihre Gesundheit zu achten, nimmt ihnen auch persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Ohne Verteilungsgerechtigkeit ist Chancengerechtigkeit nicht denkbar.
Die CSU will die Umverteilung nicht abschaffen. Natürlich muss die Gemeinschaft dafür sorgen, dass jeder das zum Leben Notwendige nutzen kann. Aber dieses Versprechen steht in einem Spannungsverhältnis zur Generationen-, zur Chancen- und zur Leistungsgerechtigkeit. Ich plädiere dafür, die alten Prioritäten zu ändern. Im Mittelpunkt des Sozialstaates sollte nicht der Bürger stehen, der betreut und bevormundet werden muss. Einen Anspruch auf Solidarität der Gemeinschaft erwirbt erst derjenige, der seine Kräfte selbst mobilisiert oder nicht die Kraft und die Möglichkeiten hat, sich selbst zu helfen. In dieser Reihenfolge.
Wenn Sie so viel von gerechten Chancen halten – warum machen dann so wenige Migrantenkinder Abitur an bayerischen Schulen?
Das Abitur ist nicht der allein aussagekräftige Maßstab. Die Ausgangssituation für soziale Durchlässigkeit ist auch in Bayern nicht zufriedenstellend, aber besser als in allen anderen Bundesländern. Wir haben Sprachförderung im Kindergarten und Sprachtests vor Beginn der Grundschule eingeführt. Damit können wir erreichen, dass nahezu alle Schüler ausreichend Deutsch sprechen. Wer die Zulassung nicht erhält, bekommt die Möglichkeit, bessere Kenntnisse zu erlernen. Aber es entsteht ein heilsamer Druck.
Schweden und Finnland leisten sich vergleichsweise opulente Wohlfahrtssysteme. Trotzdem gelten sie als die konkurrenzfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Widerspricht das Ihrer These von der Lähmung der Leistungsbereitschaft durch soziale Sicherheit?
Ich will nicht missverstanden werden. Man kann nicht primär mit Kürzungen sozialer Leistungen mehr Leistungsfähigkeit erreichen. Wer unsere Probleme verkürzt auf den überbordenden Sozialstaat, verengt die Diskussion, das ist falsch. Im Staat ist es doch teilweise wie in einem Unternehmen. Mit Sparsamkeit kann man zwar kurzfristig die Situation stabilisieren. Langfristig innovative Produkte zu entwickeln, ist allerdings auch notwendig. Mit Sparen alleine haben Firmen und der Staat keine gute Zukunft.
Sehen Sie Punkte, an denen soziale Leistungen nicht eingeschränkt, sondern ausgedehnt werden müssten?
Ganz sicher bei Familien mit Kindern. Und in der Pflege alter und behinderter Menschen. Was ich nicht akzeptieren will, sind Pflegestandards auf Basis der jeweiligen Haushaltslage. Es darf kein Zweifel aufkommen, dass Behinderte menschenwürdig leben können. Die Schwachen müssen sich auf die Solidarität der Gemeinschaft verlassen dürfen. Im Gesundheitswesen müssen wir die Palliativmedizin kraftvoll ausbauen. Es ist übrigens unerträglich, dass in Deutschland Millionen von Menschen mehr leiden müssen als unvermeidbar, weil wir in der Umsetzung der Erkenntnisse der Schmerztherapie schlecht sind.
Gerade junge Politiker der CSU wollen die traditionelle Familie schützen. Ein zukunftsfähiger Ansatz?
Die Familie bietet das stärkste soziale Netz, das wir kennen. Die Singles von heute schweben in der Gefahr, die Einsamen von morgen zu werden. Weil die traditionellen Formen des Zusammenhaltes wegbrechen, müssen wir bewusster neue soziale Netze fördern und pflegen. Das ist mehr als Hobby, mehr als eine schöne Tapete im Wohnzimmer der Politik.
Sie wollen Ersatz schaffen für die Familie?
Nein, ohne die Familie gibt es keine verlässliche, humane Zukunft. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Wir brauchen neue Netzwerke, die die Familie unterstützen und sie einbinden. Ich denke beispielsweise an Mehrgenerationenhäuser, in denen unterschiedliche Lebensformen harmonieren, neue Wege moderner Nachbarschaftshilfe, Tagesmütter und Kinderbetreuungseinrichtungen. Wir können heute keine Ausschließlichkeit eines Leitbildes formulieren, das auf die alte Versorgerehe hinausläuft. Das wäre der Weg, den viele junge Frauen nicht mehr mitgehen – etwa weil sie nicht in die Abhängigkeit des Mannes geraten oder sich beruflich entwickeln wollen.