„Gewalt korrumpiert Menschen“

Ein Gespräch mit dem indischen Schriftsteller Vikram Chandra über seinen neuen, mehr als tausend Seiten umfassenden Roman „Sacred Games“, über Briefumschläge mit Bestechungsgeldern, Schusswechsel in der Nachbarschaft, gewalttätige Polizisten und die Vielsprachigkeit Bombays

VON KATHARINA GRANZIN

taz: Herr Chandra, Sie haben sieben Jahre an Ihrem neuen Roman gearbeitet. Wie fühlt es sich an, endlich fertig zu sein?

Vikram Chandra: Ganz gut. Aber es ist noch sehr surreal, das Buch als physisches Objekt vor mir zu haben. Wahrscheinlich brauche ich ein paar Monate, um mich daran zu gewöhnen. All diese Leute in meinem Buch sind über die Jahre so etwas wie eine kleine Familie für mich geworden, und jetzt habe ich sie verloren.

Wussten Sie, als Sie anfingen, dass es so lange dauern würde?

Überhaupt nicht. Eigentlich hatte ich eine eher traditionelle Detektivgeschichte geplant, nicht länger als etwa 250 Seiten. Aber als ich anfing, mit Leuten zu reden und über das Thema nachzudenken, wurde mir klar, dass es wesentlich größer werden würde. Ziemlich zu Beginn meiner Recherche sprach ich mit einem Polizisten über einen Zwischenfall, der vor ein paar Jahren ganz in der Nähe meiner Wohnung passiert ist. Ein shooter, wie wir in Bombay sagen, der für eine der Mafiaorganisationen gearbeitet hatte, war von der Polizei in die Enge getrieben und erschossen worden. Ich hatte sogar die Schüsse gehört, so nah war es. Als ich Jahre später den Polizisten danach fragte, sagte er, klar, ich kann Ihnen die Geschichte von dem Kerl erzählen, woher die Polizei den Tipp bekam und mehr dergleichen. Aber wenn Sie wirklich wissen wollen, was passiert, dann sollten Sie noch mit ganz anderen Leuten reden. Er wollte mir sagen, dass das, was in unserer Umgebung passierte, Teil eines viel größeren Geflechts von Zusammenhängen war. Sobald mir das klar wurde, begann ich auch über die historischen Zusammenhänge und Geschichten nachzudenken, die sich durch unser aller Leben ziehen – angefangen bei der Teilung Indiens.

Die eine Hauptfigur des Romans, Inspektor Sartaj Singh, taucht bereits in Ihrem Erzählungsband „Die fünf Seiten des Lebens“ auf. Seitdem hat er eine Entwicklung durchgemacht. Er hat zum Beispiel begonnen, Bestechungsgelder zu nehmen.

Das Interessante für mich war dabei: Wie kann man in dieser fehlerhaften Welt die richtigen moralischen Entscheidungen treffen? Sartaj ist, um seinen Job machen zu können, bereit, das Spiel mitzumachen, aber er geht nicht weiter als bis zu einer bestimmten Grenze.

Das Thema Käuflichkeit dominiert alle Personen im Roman. Ist die Darstellung realistisch?

Korruption gibt es überall auf der Welt. Aber in Indien und vergleichbaren Ländern dringt sie möglicherweise stärker in das Alltagsleben der Menschen ein als anderswo. Paradoxerweise ist das auch ein Erbe der idealistischen Vision, im unabhängigen Indien ein zentralisiertes, sozialistisches Wirtschaftsgefüge zu etablieren. Das Resultat war diese gigantische Bürokratie und ein Vorschriftendschungel, in dem man, um die einfachsten Dinge getan zu bekommen, Unterschriften von dreißig Leuten braucht. Was dreißig Leuten die Möglichkeit eröffnet, etwas dazuzuverdienen. Kürzlich, als das Buch in Indien herauskam, war ich in Chennai, und nach der Lesung kam jemand zu mir und sagte, wissen Sie, ich habe eine Schwägerin, die bei der Zollbehörde arbeitet. Jeden Monat taucht ein Umschlag mit Geld auf ihrem Tisch auf. Nicht dass sie jemals darum gebeten hätte; aber es gibt offenbar eine Gruppe in der Behörde, die dafür zuständig ist, die Bestechungsgelder intern zu verteilen.

Was fast noch mehr verstört an Ihrem Buch, ist die Art und Weise, wie selbstverständlich Gewalt von Seiten der Polizei eingesetzt wird – gegen Verdächtige, aber auch gegen unbescholtene Zeugen.

Ja, aber auch das ist nichts, worauf ich, als Autor, der für ein Buch recherchiert, erst gestoßen wäre. Jeder Bürger Indiens kann sich das denken. Es ist auch ein populäres Thema im Film. Korruption und Gewalt bei der Polizei werden sehr offen gezeigt, ich bin da beileibe nicht der Erste.

Aber es ist sehr ungewöhnlich, einen positiven Charakter wie Sartaj dabei zu erleben, wie er beispielsweise einen alten Mann schlägt, um ihn sich als Zuträger von Informationen gefügig zu machen.

Ja, aber genau in der Szene denkt er auch, hey, es wird dem alten Mann schon nichts passieren. Das ist nur die Sprache, die wir sprechen. Er weiß es, und der alte Taschendieb weiß es, und sie finden einen Kompromiss. Ich will nicht argumentieren, dass das eine gute Sache ist. Auch Gewalt korrumpiert die Menschen. Gerade Polizisten, die frustriert sind über das Rechtssystem und in einem Klima der Angst agieren müssen, sind dafür anfällig. Irgendwann beginnt man vielleicht, Gewalt aus anderen Motiven auszuüben als aus reiner Frustration – als Machtkalkül. Es ist eine sehr dunkle, zynische Realität, und Sartajs Art, sich dagegen zu wehren, ist, sich von jeglichen Ambitionen auf Macht und Einfluss frei zu halten.

Konnten Sie sich auch mit Angehörigen der Mafia unterhalten, um diesen Roman zu schreiben?

O ja. Seltsamerweise waren die obersten Mafiabosse leichter zu erreichen als das Fußvolk, weil sie größtenteils öffentlich agieren, wie die Bosse ganz normaler Großunternehmen. Sie sind sehr geschickt darin, die Medien als politisches Instrument einzusetzen. Wenn sie den Eindruck haben, dass man irgendetwas mit Journalismus zu tun hat, ist es leicht, eine Telefonnummer zu bekommen. Als ich mit meiner Recherche begann, war einer der Bosse, Arun Gawli, gerade dabei, in Bombay in die Politik einzusteigen. Man konnte zu seinem Haus gehen, wo es einen durbar gab, eine Art öffentlicher Audienz. Es waren haufenweise Leute dort und warteten darauf, mit ihm sprechen zu dürfen.

So wie in „Der Pate?“

Ja, man schickt seine Karte, wartet eine Stunde und wird dann vorgelassen. Die einfachen Gangster, die Fußsoldaten, waren viel schwerer zu erreichen. Sie verbringen nie mehr als eine Nacht am selben Ort, aus Angst, die Polizei oder Mitglieder anderer Banden könnten sie finden. Es war daher sehr kompliziert, diese Jungs zu treffen. Irgendwann wird man zu einer Straßenecke bestellt, und dann kommt ein Straßenjunge gelaufen und bringt einen woandershin.

Was haben Sie ihnen gesagt? Dass Sie einen Roman über die Mafia schreiben?

Ja, aber wenn ich sagte, ich schreibe ein Buch, verstanden sie oft nicht, was ich meinte. Sie fragten, ist das so was wie eine Fernsehserie oder ein Film? Wenn ich dann Ja sagte, war alles in Ordnung. Ein Film, o.k. Was willst du wissen? Darin kannten sie sich gut aus und hatten sehr entschiedene Ansichten darüber, in welchem Film Leute wie sie richtig dargestellt waren und in welchem nicht. Da spielt auch hinein, dass die Beziehung von Filmbusiness und Mafia recht eng sein kann, was ja auch im Roman gezeigt wird.

Ihr Buch soll auch auf Hindi herauskommen?

Eine Hindi- und eine Marathi-Übersetzung sind in Arbeit. Es ist das erste Mal, dass ein Buch von mir auch auf Hindi erscheint. Es hat allerdings schon Übersetzungen in andere indische Sprachen gegeben.

Reagieren die Leser, die Ihre Bücher in anderen indischen Sprachen lesen, anders auf sie als Ihr Englisch lesendes indisches Publikum?

Für die Englisch-Leser ist die Tatsache, dass es im Westen veröffentlicht wurde, sehr wichtig. Es kommen häufig Fragen danach, wie erfolgreich das Buch in den USA gewesen ist. Leuten, die in den indischen Sprachen lesen, ist das eher egal.

Warum ist es so wichtig, wo ein Buch veröffentlicht wurde?

Ein Grund ist, dass das Schreiben auf Englisch immer noch für Kontroversen sorgt. Als ich anfing, Englisch zu sprechen, in der ersten Klasse, war diese Sprachwahl noch nicht so stark politisch aufgeladen.

Was haben Sie vorher zu Hause gesprochen?

Bevor ich in die Schule kam, konnte ich nur Hindi. Dann, in der Schule, wussten wir zwar, dass Englisch eine Sprache war, die von anderswo gekommen war, aber trotzdem sprachen wir es auch auf dem Spielplatz. Ich hatte Freunde aus ganz Indien, und Englisch war unsere gemeinsame Sprache.

Es scheint, als sei Englisch gegenwärtig auch die einflussreichste Literatursprache in Indien.

Bücher, die auf Englisch geschrieben sind, ziehen wesentlich mehr Aufmerksamkeit und, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, mehr Geld auf sich als Bücher in den Regionalsprachen. Englisch ist die Sprache der sozialen Mobilität. Es gibt eine stark wachsende Mittelschicht, die willens und in der Lage ist, Geld für englischsprachige Bücher auszugeben. Die Zahl der Buchläden wächst rasant, und es werden mehr und mehr Bücher gedruckt. Die Regionalsprachen profitieren von dieser Entwicklung aber eher nicht. Mit Ausnahmen wohl. Es gibt eine sehr aktive und vitale Literatur auf Bengali und Malayalam, aber der Markt für Belletristik auf Hindi ist sehr klein.

Haben Sie selbst jemals auf Hindi geschrieben?

Nein. Ich habe an Drehbüchern mitgearbeitet, die auf Hindi waren, aber sonst – nein. Ich habe sehr früh, schon als Kind, angefangen zu schreiben. Es schien mir damals ganz natürlich, englisch zu schreiben.

In welchen Sprachen, muss man sich vorstellen, sprechen die Personen in Ihrem Buch eigentlich miteinander?

Kommt auf den Kontext an. Wenn Sartaj mit seiner Mutter telefoniert, sprechen sie Punjabi. Der Mafiaboss spricht mit seinen Boys Marathi. Und so fort.

Und was spricht Sartaj mit Mary, der Frau, in die er sich verliebt? Es heißt an einer Stelle, ihr Hindi sei nicht so gut, aber er könne auch nicht genug Englisch.

Sie sprechen etwas, das wir Bambaiya nennen, eine Art Bastard-Hindi, das puristische Hindi-Sprecher aus dem Norden des Landes mit Verachtung und Furcht betrachten. Aber wir lieben es! Es ist sehr slangy, ein Mix, der durchsetzt ist von Ausdrücken aus allen möglichen indischen Sprachen, aber auch ein ganz eigenes Vokabular entwickelt hat.

Die Person, die Ihren Roman ins Hindi übersetzt, muss also all das berücksichtigen.

Ja. Es gewissermaßen rückübersetzen. Das ist ein wirklich interessantes formales Problem, denn in welcher Sprache auch immer man in Indien arbeitet, aber vor allem in Bombay – man übersetzt immer. Weil es so eine multilinguale Stadt ist. Wenn ich meine Wohnung verlasse, ist es nicht ungewöhnlich, dass ich, noch bevor ich an der nächsten Ecke bin, schon fünf verschiedene Sprachen gehört habe.