Der lange Weg in den Kindergarten

REFUGIUM Eine syrische Familie aus der Stadt Aleppo hat nach einer langen und schwierigen Flucht in einem kleinen bayerischen Dorf eine neue Heimat gefunden. Die Welt des dreijährigen Jan ist jetzt wieder in Ordnung

AUS GEISENHAUSEN TOBIAS SCHULZE

Das neue Leben beginnt mit einem Ausflug auf den Marienplatz. Das Touristenprogramm: Mit der S-Bahn fährt Familie A. in die Münchner Innenstadt und wartet vor dem Rathaus, bis um 11 Uhr das Glockenspiel beginnt. An der Turmfassade drehen sich dreimal am Tag Holzfiguren zur Musik. Zwei Ritter zum Beispiel, die mit Lanzen in der Hand aufeinander zureiten. Wie schön, denkt sich Shirin, die Mutter. Wie komisch, denkt sich Jan, der Sohn. „Warum kämpfen die?“, fragt er seine Eltern.

Monatelang war die Familie auf der Flucht, weil zu Hause Raketen vom Himmel fielen. Die neue Heimat sollte angeblich sicher sein. Und jetzt das: zwei Männer, die sich mit Lanzen von den Pferden schmeißen. Jan stellt oft schwierige Fragen. Schon vor zwei Jahren, als Familie A. mit den beiden Söhnen noch in Aleppo wohnte.

Jwan, der Vater, betrieb dort eine Apotheke. Das Geschäft lief gut und es lief noch besser, als der Bürgerkrieg begann. Verbandskästen und Antibiotika gehen im Krieg am besten.

Flucht in die Türkei

Als die ersten Kampfflugzeuge über der Stadt auftauchten, durfte Jan das Haus nicht mehr verlassen. „Warum kann ich nicht in den Kindergarten gehen?“, fragte er jeden Morgen. Eine Antwort bekam er nicht. Es ist schwierig, einem Dreijährigen den Krieg zu erklären. Die Eltern sagten nur, er dürfe bald wieder rausgehen. Daran glaubten sie. Bis die erste Rakete am Haus vorbeizischte. Shirin und Jwan setzen die beiden Kinder ins Auto und flüchteten über die Grenze in die Türkei.

Sieben Monate später, im Mai 2013, schlagen sie in München auf. Die Flüchtlingsheime sind überfüllt, deshalb haben die Behörden das Hotel Pollinger gebucht. 120 Betten, Vollpension und W-Lan. Familie A. ist der Internetzugang egal. Als sie ankommt, sieht sie nur eins: Ein Zimmer für sich allein, mit vier Matratzen. Die erste ruhige Nacht seit Aleppo.

Am nächsten Morgen beginnt also das neue Leben. Über Deutschland weiß die Familie wenig, und weil sie wohl eine ganze Weile bleibt, will sie keine Zeit verlieren. Sie möchte dieses Land kennenlernen und den Anfang macht sie auf dem Marienplatz. Die vier Syrer könnten Touristen sein. Aber Touristen zahlen für eine Reise nach München keine 31.000 Euro.

In Istanbul engagierte Jwan einen Schlepper. Er gab dem Mann seine gesamten Ersparnisse, damit die Familie sicher nach Deutschland kommt. Die erste Etappe sollte auf einer Touristenjacht nach Griechenland gehen, aber schon das war gelogen. Drei Tage lang musste die Familie durch den Wald marschieren, bis sie das Meer erreichte und einen überfüllten Kutter bestieg.

Bevor die Familie später in einem Lkw-Anhänger nach Deutschland fuhr, versteckte sie sich monatelang in einer maroden Wohnung in Athen. Wenn Jan morgens aus dem Fenster schaute, sah er andere Kinder, die mit Rucksäcken durch die Straße liefen. „Warum darf ich nicht in den Kindergarten?“, fragte er dann.

Mit Nachbarn zum Fest

Krieg und Frieden bedeuten für einen kleinen Jungen: spielen oder nicht spielen. Jan hat den Frieden im Juli 2013 gefunden. Seitdem geht er in die Sonnengruppe, Kindergarten Geisenhausen. Die Gemeinde liegt in Niederbayern, hat rund 6.000 Einwohner und seit vergangenem Jahr ein Flüchtlingsheim. Der Bürgermeister hatte gegen das Heim geklagt, aber ein paar Anwohner nahmen sich vor, den neuen Nachbarn zu helfen.

Als Familie A. nach drei Wochen München in Geisenhausen ankommt, wartet im Heim ein Empfangskomitee. Das ist praktisch, so kann Shirin, die Mutter, gleich ihre Frage loswerden: Wo es hier zum Kindergarten geht. Inzwischen ist Jan schon acht Monate in der Sonnengruppe und spricht fließend Deutsch. Auch die Eltern machen Fortschritte, sogar bei komplizierten Wörtern wie A-syl-be-wer-ber-un-ter-kunft. Die Menschen aus dem Empfangskomitee sind mittlerweile Freunde und der Kontakt mit den Deutschen hilft beim Lernen.

Vor ein paar Monaten nahmen die Nachbarn Familie A. mit zur Landshuter Hochzeit, einem Volksfest. Es gab Spanferkel mit Maßbier. Abends kaufte sich die Familie einen Buchskranz, das Wahrzeichen des Volksfests. Er hängt heute an der Zimmertür im Heim. Das soll Glück bringen. Glück ist ein schwieriges Wort, wenn eine Familie ihre Heimat verliert. Aber wenn sie in einem Dorf in Niederbayern eine neue findet, 2.441 Kilometer von Aleppo entfernt, ist der Begriff auch nicht ganz falsch.

Niemand weiß, wie lange dieses kleine Glück anhält, aber zumindest für die nächsten drei Jahre wird Familie A. bleiben. Anfang März brachte der Postbote die Aufenthaltsgenehmigung. Am Abend kamen die Nachbarn mit Sektflaschen ins Heim.

Der nächste Schritt ist eine eigene Wohnung, der übernächste eine Arbeit. Jwan, der Vater, hat gerade ein Praktikum begonnen, bei Pöschl, dem weltgrößten Schnupftabakhersteller mit Sitz im Ort. Jwan hilft in der Produktion, wo der Tabak in Dosen gepackt wird. Es ist ein komisches Gefühl: In der Apotheke war er es, der Praktikanten beschäftigte. Nun muss er selbst ganz unten anfangen, und das nicht als Pharmazeut, sondern als Hilfsarbeiter. Nicht jeder Abschluss aus dem Ausland wird hier anerkannt und ob Jwan jemals in einer deutschen Apotheke arbeiten wird, ist unklar. „Flüchtlinge mit fertigem Studium sollten nicht putzen müssen“, sagt seine Frau. „Sondern in ihren alten Berufen arbeiten.“ Nur ein Vorschlag sei das, sie will sich nicht beschweren.

Alles ist besser als in Syrien, wo ihre Eltern bis heute ausharren. Sie wohnen nördlich von Aleppo. Manchmal funktioniert dort das Handynetz, und wenn die Eltern anrufen, erzählen sie von den Islamisten, die ihre Feinde mit Säbeln enthaupten. Ab und zu darf auch Jan, der Kleine, mit seinen Großeltern telefonieren. Dann stellt er wieder eine dieser Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß. Sein Feuerwehrhaus von Playmobil, mit Löschfahrzeug und Leitern, musste er daheim zurücklassen. Ob das Feuerwehrhaus inzwischen kaputt ist, will er wissen. Und falls ja: Warum?