: Wege zur guten Pflege
ALTERSKULTUR Pflegenoten verschleiern das eigentliche Problem: Eine bessere Altenpflege kostet mehr Zeit und Geld. Die menschliche Qualität wird bislang gar nicht erfasst
VON ANSGAR WARNER
War früher vom Pflegenotstand die Rede, so ist heute die Kurzversion in aller Munde: Pflegenoten. Regelmäßige Qualitätsprüfungen in Pflege-Einrichtungen werden seit 2010 mit Noten von 1 bis 6 bewertet, die Ergebnisse sind via Internet frei zugänglich. Das soll Betroffenen wie auch Angehörigen die Orientierung im Pflege-Dschungel erleichtern. Doch fast 99 Prozent der Einrichtungen erhielten gleich in der ersten Runde die Note 2 oder besser. Wurde hier ein marodes System schön gerechnet? Als Reaktion auf die schlechten Noten für die Pflegenoten hat man das Bewertungsschema zum 1. Januar 2014 verschärft. Doch starke Zweifel bleiben, manche Akteure fordern die sofortige Aussetzung des „Plege-TÜV“, darunter das Nikodemus-Werk, der Dachverband anthroposophischer Pflege. „Die positive Weiterentwicklung eines im Kern gescheiterten Ansatzes ist nicht realistisch“, so ein aktuelles Positionspapier.
Pflegequalität lasse sich nämlich nicht rein qualitativ abbilden – zwischenmenschliche Faktoren blieben oft unberücksichtigt. Altenpflege sei aber kein rein „funktionaler Versorgungsablauf“. Pflegewissenschaftliche Studien belegten sogar, dass in der Regel nur 40 Prozent der tatsächlichen Leistungen dokumentiert werden. Viele wesentliche Dinge wie die persönliche Zuwendung oder ein Gespräch fließen somit nicht in die Bewertung mit ein. Die absurde Folge: Orte, an denen eher Dienst nach Vorschrift geleistet wird, liegen bei der Bewertung am Ende gleichauf mit Häusern, die sich ganz besonders darum bemühen, den Bedürfnissen älterer Menschen entgegenzukommen.
Ein gutes Beispiel für den alternativen Ansatz in der Altenpflege ist das Haus Aja Textor-Goethe in Frankfurt, das sich selbst als „Sozial-Pädagogisches Zentrum für Lebensgestaltung im Alter“ bezeichnet. „Es geht nicht um Hirn-, sondern um Herzensqualitäten“, betont Uwe Scharf, Geschäftsführer der vom Nikodemuswerk getragenen Einrichtung. Man müsse überschaubare, gemütvolle Lebenszusammenhänge schaffen: „Menschen mit Demenz sprengen routinierte Versorgungsstrukturen, sie brauchen ein ganz besonderes Milieu, um überhaupt Vertrauen aufzubauen“, so Scharf.
Das sieht auch Marc Richter von der dortigen Pflegdienstleitung so: „Was zählt, ist der Moment der Begegnung zwischen Pflegenden und Gepflegten. Die alten Menschen dürfen nicht als Gegenstand der Pflege betrachtet werden, sie sind Partner in der Pflege“. Die Hausgemeinschaft setzt deswegen beim alltäglichen Umgang mit älteren Menschen auf ein kleinräumig angelegtes Umfeld, das weitaus besser das intuitive Zurechtfinden ermöglicht als komplex aufgebaute geriatrische Stationen, die uns der durchökonomisierte, pflegeindustriellen Komplex beschert hat.
Ein besonders gutes Beispiel ist das vor einigen Jahren neugebaute Gartenhaus hinter der eigentlichen Einrichtung: Aufgeteilt in vier kleinen „Großfamilien“ leben hier insgesamt 32 Bewohner in architektonisch eigens für demenzkranke Menschen konzipierten Bereichen. Viele Aktivitäten, die normalerweise an „Experten“ ausgelagert werden, hat man im Haus Aja wieder in das konkrete Tun und Erleben der Bewohner zurückgeholt, so etwa das Fegen oder Wäsche falten. So kann sich jeder nach seinen Fähigkeiten am Zusammenleben beteiligen. Die vielfältigen Bemühungen bescherten dem Haus Aja Textor-Goethe schon einige Auszeichnungen, zuletzt etwa als „verbraucherfreundliches Heim“, der Öko-Garten hinter dem Haus erhielt 2012 den „Naturgarten-Preis“ der Stadt Frankfurt.
Die Pflegenoten bilden das besondere Engagement aber nicht ab. Sie binden im Gegenteil noch zusätzliche Kräfte für die Dokumentation: „Rein rechnerisch sind neun unserer Mitarbeiter das ganze Jahr nur mit der EDV-gestützten Evaluation beschäftigt“, so Scharf. Kein Wunder, dass die Pflegenoten am eigentlichen Problem nichts geändert haben – der Zeitknappheit nämlich. Dabei gäbe es so viel mehr zu tun. Und klärende Gespräche etwa – auch mit den Angehören – kosten beträchtliche Zeit. Die fehlt eigentlich schon, wenn ein Pfleger am Morgen zehn Menschen beim Aufstehen, waschen und Anziehen helfen soll und gerade einmal 30 Minuten pro Person zur Verfügung hat.
Best-Practice-Beispiele für ein Bewertungsschema, dass Bemühungen um eine bessere „Alterkultur“ berücksichtigt, gibt es schon: Bayern hat ein eigenes Prüfmodell vorgestellt, das sich überwiegend auf teilnehmende Beobachtung und qualitative Interviews stützt. Dabei kann natürlich auch herauskommen, dass es um die Pflege nicht ganz so gut bestellt ist, wie die Durchschnittsnote 1 bis 2 derzeit suggeriert. Vor Ort scheint das aber ohnehin längst klar – es gehe eigentlich nicht mehr um die Frage, ob Pflege mehr kosten muss, sondern eher darum, wie man diese Gelder zur Verfügung stellt, so Annette Wittkamp. „Ethisch können wir den älteren Menschen im bisherigen Pflegesystem nicht gerecht werden“.