Dem Muff auf der Spur

AUS DELBRÜCK KATHARINA HEIMEIER

Bernhard Lange steckt seine Nase in das gelbe Spültuch und zieht die Mundwinkel nach unten. Sein leicht grau melierter Schnurrbart zittert. Der 58-Jährige reicht den Lappen weiter an seine Kollegin. „Muffig“, kommentiert Katrin Fuest (34). Lange und Fuest sind Lebensmittelkontrolleure im Kreis Paderborn. Sie kennen die kritischen Punkte. „An Wursttheken werden gerne mal Spüllappen unter die Schneidebrettchen gelegt, damit sie nicht rutschen“, sagt Fuest. Ausgewechselt würden die Lappen viel zu selten. So auch das Exemplar im Elli-Markt, einem Supermarkt in der ostwestfälischen Kleinstadt Delbrück.

Eigentlich geht es Lange und Fuest nicht um Lappen. Sie suchen Fleisch. Frisches Fleisch. Und nicht ganz so frisches. Spätestens seit bayerische Kollegen vor kurzem in einem Münchner Kühlhaus eine Entdeckung gemacht haben, die das in Gang gesetzt hat, was mittlerweile als „Gammelfleischskandal“ Schlagzeilen produziert: tonnenweise Fleisch, dessen Haltbarkeitsdatum teils seit vier Jahren abgelaufen war. Keine bayerische Spezialität, das wurde schnell klar. Auch in anderen Bundesländern wurde schlechtes Fleisch gefunden. Im Tiefkühllager eines Großhändlers aus dem nordrhein-westfälischen Heinsberg tauchten vergangene Woche 15 Tonnen Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum auf.

Das Zauberwort „MHD“

Das Gulasch im Delbrücker Elli-Markt ist frisch – „1a Braten-Gulasch“, ein Kilogramm zu 5,99 Euro, wie die Angebotstafel hinter der Fleischtheke anpreist. „Das habe ich heute morgen frisch gemacht“, sagt Fleischer Lothar Roderfeld, der eine weiße Plastikschürze über dem blau-weiß gestreiften Hemd trägt. Kontrolleur Lange blickt trotzdem kritisch in die Schüssel mit den feinen roten und grünen Paprikastreifen und dem Fleisch.

Als er eben hinter die Fleischtheke getreten ist, hat er sich noch rasch einen weißen Schutzhelm aufgesetzt. Aus seiner Kitteltasche ragt ein Thermometer. Seine Kollegin trägt ein dünnes Ein-Weg-Haarnetz über ihren langen blonden Haaren und ein schwarzes Klemmbrett unter dem Arm. Bei ihren Kontrollen im Kreis Paderborn haben Lange und Fuest bisher noch kein Gammelfleisch entdeckt, auch wenn sich Kontrolleurin Fuest sicher ist: „In zwei Stunden hätten wir hier im Kreis vermutlich auch sechs Kilogramm abgelaufenes Fleisch zusammen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es sich dabei um Gammelfleisch handeln würde.“

Das Zauberwort in der Branche heißt MHD. Immer wieder fällt der Begriff formelartig in den Bemerkungen, die Lange und Fuest wechseln, während sie Folien von Schüsseln nehmen und Aufkleber auf eingeschweißten Fleischstücken scannen. MHD heißt Mindesthaltbarkeitsdatum. Wenn das überschritten ist, bedeutet das aber noch längst keinen Fleischskandal. Kontrolleur Bernhard Lange erklärt: „Ein Stück Fleisch, das sofort eingefroren wird, ist auch nach vier Jahren noch nicht schlecht.“ Auch wenn es dann sicherlich nicht mehr so gut schmecke. Fleisch, das nach dem Auftauen gammelig sei, müsse schon vor dem Einfrieren verdorben gewesen oder nicht durchgängig gekühlt worden sein.

Das Thermometer im Kühlhaus von Fleischer Roderfeld zeigt drei Grad. Lange nickt. Drei Grad sind in Ordnung. Kritik an zu laschen und seltenen Kontrollen kann er nicht nachvollziehen. „Wo gibt es schon eine hundertprozentige Kontrolle“, fragt er. Jeder könne überall Lager anmieten. „Es gibt Kühlhäuser, von denen wir gar nichts wissen.“ Und auch der Aufwand für eine Kontrolle sei nicht zu unterschätzen, ergänzt seine Kollegin Fuest. „In einem Hochregallager bei minus 28 Grad können Sie nicht mal eben die 20. Kiste aus dem soundsovielten Regal kontrollieren.“ 2.800 Betriebe im Kreis überprüfen Fuest, Lange und zwei Kollegen regelmäßig und ohne Ankündigung.

Geruchstest bestanden

Geht es nach Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), so sind sie bald zu acht. Er will die Zahl der Lebensmittelkontrolleure in NRW verdoppeln. Eine Ankündigung, die bei Kontrolleur Lange auf Skepsis stößt. „Die Idee ist erst einmal in Ordnung, aber ich frage mich, wie sie umgesetzt werden soll“, sagt er. In der Vorstellung des Ministerpräsidenten gehen bald ehemalige Verwaltungsbeamte in weißen, gestärkten Kitteln und mit Klemmbrett unter dem Arm Lebensmittel kontrollieren. Fuest hat an diesem Morgen noch nicht viel auf dem Zettel notiert, der unter ihrem Klemmbrett steckt. Die Rinderfilets, die rot und saftig mit leichten dunklen Rändern in der Fleischtheke liegen, bekommen sogar ein Extra-Lob. „Die sind von der Reifung her genau richtig“, sagt sie. Auch den Geruchstest haben sie ohne Probleme bestanden. Doch den Verbrauchern geht nach Beobachtung des Kontrolleur-Duos die Fähigkeit verloren, gutes und schlechtes Fleisch an seinem Geruch zu erkennen.

Keine 300 Meter vom Kühlraum entfernt liegt der Duft von frischem Kaffee in der Luft, den emsige Landfrauen an diesem Morgen auf dem Tag der Landwirte im Großen Festzelt ausschenken. Es ist Katharinenmarkt in Delbrück. Die ostwestfälische Kleinstadt feiert schon seit dem Wochenende ein großes Volksfest, das traditionell mit einem Treffen der Bauern aus der Region endet. Dieses Jahr haben die Landwirte den Minister eingeladen, in dessen Ressort das Gammelfleisch fällt: den Christdemokraten Eckhard Uhlenberg, „einen, der aus unserem Holz geschnitzt ist“, wie es Hans-Ulrich Schulte, Sprecher der landwirtschaftlichen Ortsvereine, formuliert. Uhlenberg war selbst einmal Landwirt. Jetzt ist er Minister, trägt einen dunklen Anzug und steht auf der Tribüne im Festzelt, hinter sich eine Kulisse aus Fachwerkhäusern und Sonnenblumen, vor sich an langen Tafeln aus Biertischen und Bänken Bäuerinnen und Bauern aus der Region. Uhlenberg spricht über den Agrarstandort Nordrhein-Westfalen. „Gut, dass der Umweltminister mal wieder aus einer großen Volkspartei kommt, einer, der weiß, was die Menschen denken“, sagt er.

Bratwurst an Bratwurst

Den Skandal um nicht mehr ganz frisches Fleisch will er am liebsten gar nicht erst erwähnen. „Ich möchte eigentlich gar nicht mehr über Gammelfleisch reden, aber wenn ich nichts dazu sage, dann sind Sie auch enttäuscht.“ So begrüßt er dann den Vorschlag seines Ministerpräsidenten, die Zahl der Lebensmittelkontrolleure zu verdoppeln. Und auch die Verbraucher, die zu wenig Geld in Lebensmittel stecken, nimmt er ins Gebet. „Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist nicht der richtige Weg.“

Den Appetit verderben lassen sich die Bauern durch die ministeriellen Ausführungen zum Fleischskandal nicht. Im Anschluss an die Rede, als Nachtisch quasi, servieren die Landfrauen Pannenbrich, gewürzten Wurstbrei. Draußen vor dem Zelt an der Imbissmeile des Katharinenmarktes dreht sich derweil ein ganzer Ochse am Spieß, der klein geschnitten zwischen zwei Brötchenhälften verkauft wird. Und auf dem Grill einer Fleischerei liegt Bratwurst an Bratwurst.

Verunsicherte Konsumenten? Fehlanzeige. „Katharinenmarkt-montags ist hier traditionell Tag der Bratwurst“, sagt einer, der am Grill steht und schwitzt. Currywurst oder Kotelett stünden nicht auf der Wunschliste der Bauern. „Die sagen nur eine oder zwei und meinen damit selbstverständlich die Bratwürste.“

So war es immer und so ist es auch in diesem Jahr, obwohl die Zeitungen voll sind von Gammelfleischmeldungen. Das Vertrauen der Delbrücker Verbraucher in ihre Supermärkte und Metzgereien vor Ort ist ungebrochen. 500 bis 600 Kilogramm Fleisch verkauft der Elli-Markt in der Woche. „Im Grunde ist das hier ein Dorfladen. Die Kunden haben Vertrauen zu uns“, sagt Marktleiter Bernd Westerhorstmann. Manche stünden sogar täglich vor der Fleischtheke. Dahinter ist alles in Ordnung. „Das Kühlhaus ist zufrieden stellend“, sagt Bernhard Lange. Auf dem Klemmbrett der Kollegin Katrin Fuest stehen nur Kleinigkeiten.