Blutleerer Othello, prall-grelle Othella

In Hannover hatte Othello am Wochenende Doppelpremiere: In der Oper gab es eine schauspielerisch dünne Verdi-Interpretation, im Staatstheater eine deftige Variante von Shakespeares Klassiker mit einer weiblichen Hauptdarstellerin, aber ganz ohne religiösen Kontext

Othello muss die Bibel auf den Boden knallen, ein Jesus-Kreuz zerdeppern, Desdemona vergewaltigen, k.o. schlagen und tot in den Beichtstuhl hängenSo wie sich der Opern-Othello frömmer als die Frömmsten inszeniert, gibt sich Schauspiel-Othella, mit unsicherer Selbstsicherheit, männlicher als die Männer

Lust, Gewalt, Macht, Zerstörung. Hat die wüste Räuberpistole um den Eifersuchtsvirus hinter der Schuhcreme-Maske ausgedient, die negroide Sexmaschine abgedankt? Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen?

Seit Jahren wird Othello kaum noch von der Leine gelassen, um als gezähmter Mohr durch seine andersartige Präsenz die verfeinerten Menschen Venedigs zu Barbaren des Neides und Hasses zu entfesseln. Aber jetzt rückt die wild in den Tod hetzende Geschichte aus mythischer Ferne zurück in die Gegenwart unseres Gefühls: In Chemnitz, Düsseldorf, Essen, Radebeul, Wilhelmshaven startet die Theatersaison mit „Othello“. Die Angst vor dem, die Lust auf den Fremden reizt wieder die Fantasie, stimuliert zu Liebe und Ausgrenzung.

In Hannover gleich zweimal: als Oper (Verdi) und Schauspiel (Shakespeare). Zum Vergleich. Ein prall schäumender und düster dräuender Stoff, unheimlich und witzig zugleich. Von Nicolas Brieger mit kühlem Konzept auf die Bühne betoniert, vom handelsüblichen Opernpomp umtobt. Von Lars-Ole Walburg federleicht dem hohen Ton der Klassizität entrückt, im entspannten Duktus zum Schweben gebracht und in ein Netz aus Chiffren, Verweisen, Regietheatergags gesponnen: eine spielerische Erkundung der dramatischen Bühnenkunst, der Figuren und Konflikte.

Bei Verdi, so die gängige Übereinkunft, muss in erster Linie exquisit musiziert und gesungen werden. Der Rest findet sich. Während also aus dem Orchestergraben der glühende Atem von Verdis schaurig schöner Melodramatik faucht, wogt und braust, das Ensemble ausgezeichnet bei Stimme ist, wird szenisch das Fassadenhafte des Stücks betont – und als starre, religiös definierte Lebensordnung interpretiert. Brieger sieht in Othello nur eines: den moralisch streng guckenden, übereifrigen, weil unsicheren Christen, der erst vor seiner militärischen Karriere dem Islam abgeschworen hat. Wenn ihn Gattin Desdemona aufs Lager ziehen will, wird sie vom sittenstrengen Konvertiten in die Waagerechte gezerrt – zum händchenhaltenden Spazierengehen.

Wird die christliche Ethik vom Verdacht beschmutzt, die Gattin sei untreu, muss Othello die Bibel auf den Boden knallen, ein Jesus-Kreuz zerdeppern, seine eigene Ehre beschmutzen – Desdemona vergewaltigen, k.o. schlagen und tot in den Beichtstuhl hängen. Sind erst mal die Werte der frisch angetrauten Religion zerstört, ist alles zerstört.

Tragödie der Assimilation. Klar, dass die Oper in einem Kirchenbühnenbild spielt und Jago als dialektisch geschulter Intrigant so richtig den Rowdy geben muss: ins Weihwasser pinkeln, die Kirchenbänke umschmeißen. Schade nur, dass nichts von dieser Lesart darstellerisch beglaubigt wird. Meist kommt nur das ungelenke Repertoire von Stummfilmschauspielern zur Anwendung. Der kugelige Othello wirkt wie eine Tenor-Parodie, Desdemona tritt als Muttchen in Omas Nachthemd auf. Von der Seele des Stücks, der Liebe, ist nur zu hören, nichts zu sehen. Damit überhaupt was auf der Bühne passiert, protzt Brieger bei den Massenszenen. Viel Aufwand für eine enervierend harmlose, hübsch langweilige Inszenierung – mit der sich der neue Intendant Michael Klügl recht mutlos einführt.

Ganz anders das Schauspiel. Alle religiösen Verweise wurden gestrichen. Ort der Handlung: ein Ferienhaus. Cocktails am Liegestuhl, Ballermannbowle für alle, Miss Wet-Shirt am Pool. Während Jago in abgefeimter Manier die Normalität des Bösen ganz beiläufig einträufelt. Othello ist von Beginn an ein Außenseiter in der soldatisch-patriarchalen Welt, nämlich eine Frau: Sabine Orleans. So wie sich der Opern-Othello frömmer als die Frömmsten inszeniert, gibt sich Schauspiel-Othella, mit unsicherer Selbstsicherheit, männlicher als die Männer: Im Schreiwettbewerb mit Jago brüllt sie schrecklicher und lauter. Ist aber auch von sanftmütiger Leidenschaft. Stolzgeschwellt verkündet sie ihre Heirat, genießt als närrisch frohe Tanzbärin ihr Glück, wehrt sich mühsam gegen die dunkle Macht der Eifersucht, wird schwerfälliger, todtrauriger, geradezu todessüchtig.

Es ist das Wunder des Schauspiels, dass man der emotionalen Affinität glaubt, dem sinnlichen Spiel der Wuchtbrumme in Generalsuniform und der teeniekeck zarten Desdemona im Glitzerbikini: jeder Blick ein Funkeln, jede Berührung pure Begierde. Ein Paar: so heiter erlöst, ganz schwach vor Hingabe. Daher ist die Mordszene auf dem Hochzeitslaken, in der Oper nur ein kleinliches Gerangel, nichts für schwache Nerven, ein zerstörerisch intensiver Akt todbringender Liebe.

Frau Othello, längst fremd im eigenen Körper: die Brüste abgeschnürt, das Gesicht schwarz angemalt, beschmutzt durch Eifersucht, Verführbarkeit, mangelndes Vertrauen. Ein blutiges Schicksalsdrama. Gemessen an der Premierenapplausstärke entschied sich Hannover aber eindeutig fürs blutleere Thesentheater – in der Oper. JENS FISCHER