Die Schubkraft des Gelebten

KOMPOSITION Filmen ist wie Dichten, Filmen ist wie Leben: Die Regisseurin Carmen Tartarotti und ihr Film über die Wiener Dichterin Friederike Mayröcker

Ganz nahe kommt der Film in diesen Schnittbewegungen und Fügungen dem Kompositionsprinzip der Textfuge und Montage von Mayröcker

VON ULRIKE DRAESNER

Das Schreiben und das Schweigen“ heißt Carmen Tartarottis neuer Mayröcker-Film. Schon der Titel hat es in sich: das Doppelpolige, das Halbgegensätzliche, das Arbeiten mit einer Überraschung, die sich erst entfaltet, wenn man ihr nachzulauschen beginnt. Wenn man auf etwas lauscht, wird es still ringsum, vor allem in einem selbst muss und darf Stille entstehen, eine gespannte Stille – eine also, die sich auf etwas richtet.

Schreiben und Schweigen. Ein Film also zu oder über etwas, das es sichtbar nicht gibt. Welch Paradox. „Also wenn du das machen kannst“, sagt Friederike Mayröcker zu Carmen Tartarotti ganz am Anfang des Unternehmens.

Dabei haben die beiden etwas Kluges erfunden: Paradox ist ja, denkt man darüber nach, eigentlich schon das Ansinnen, einen Autor zu porträtieren. Als Autor. Denn „Schreiben“ sieht man nicht. Es ist dieses Schreiben, so Mayröcker gleich zu Beginn, so intim, dass es nicht stattfinden kann, wenn ein anderer Mensch im Raum ist. „Ich selbst“, sagt die Dichterin, „bin schon zu viel dabei, eine Person zu viel.“

Wir dürfen aber zuschauen beim „Reinschreiben“, Korrigieren. Folgen den Bewegungen einer Hand auf einem Stück Papier, einer Tastatur. Das literarische Schreiben indes, diesen Verwandlungsprozess, diese ständige Übersetzung aus Wirklichkeit, das eisenharte, weiche Mayröcker’sche Schreiben, kann man nicht sehen, nur sehen: indem man, innerlich konzentriert, sich neu ausrichtet – mit dem Pfeil ins Zentrum schießt, ohne Pfeil und ohne Bogen. Indem man absichtsvoll an scheinbar „Großem“ vorbeiblickt, bis der Rand sich scharf stellt. Dort sind Schweigen und Schreiben über ihre lautliche Nähe hinaus, die r und w tauscht, und b und g, miteinander verflochten. Dort rühren wir an die Arbeitsweise des Films, Unsichtbares sichtbar zu machen, die man auch übersetzen nennen kann. Es ist kein Zufall, dass die Filmemacherin, die ein einziges Mal im Bild erscheint – man sieht sie Aufnahmegeräte in Mayröckers Wohnung schleppen –, sich selbst so aufgenommen hat, dass ihre Augen verdeckt bleiben.

Doch damit nicht genug, was die innere Widersprüchlichkeit des Unterfangens betrifft. Ein Schweigen, allemal ein so spezifisches Schweigen wie jenes vor dem Schreiben, ist naturgemäß noch weniger zu sehen als das Schreiben. Hinzu kommt das Schweigen danach, und das Schweigen all die Jahre zuvor, oft genug ein jahrzehntelanges Schweigen, ein stummes Schauen und inneres Aufrichten, um einen einzigen Text geschrieben zu haben.

So also finden wir uns wieder mitten in Gedanken über einen Film, der nicht über Mayröcker handelt, sondern damit, was – schweigend, geschnitten, komponiert und geschrieben gesagt ist, als Buch in Bildern und gesprochenem Wort, in der Lücke und im Holpern der Grammatik, in den Bewegungen zweier Körper, einer Kamera, in den Bewegungen von Hand, Papier und der Stadt Wien, die sich in Tartarottis Bilder hineinmalt und hineinsteigt in dieses Mayröcker-Leben, diese so sichtbar werdende Bedeutung von Wien als Grund für das Schreiben. Langsam tritt Mayröckers Poesie der Realität hervor, des „Stehens vor der Wirklichkeit und sie-schreibens“, eines ständigen Wanderns auch, wie man bald ahnt dank dieses Filmes nicht über, sondern mit, und ich möchte sagen „durch“ Friederike Mayröcker.

Es ist nicht immer einfach, mit Autoren umzugehen, und es ist niemals einfach, einen Film zu machen, der auf 70 Schreiblebensjahren „aufruht“ oder von diesen doch weiß – und sie spürbar macht, eine ganz eigene tektonische Platte, mit der Schubkraft des gelebten Lebens und der gelebten Arbeit. Stellen wir uns also vor, wie Carmen Tartarotti mit all diesen Unwägbarkeiten, ich meine Gewichten, nach Wien fuhr. Viele viele Male. Sie kennt Mayröcker lange, Das Schreiben und das Schweigen ist ihr zweiter umfassender Film durch diese Autorin, sie ahnte vielleicht nicht, worauf sie sich diesmal einließ, dachte sich aber wohl, dass es intensiv werden würde, eigen, langsam.

Sprechen in Bildern

Das Ergebnis ist forschend und dezent, nachhaltig, motivisch in Ringen und Kreisen gebaut, nahe an Mayröckers Werk, nie illustrierend, immer erhellend und oft anrührend, traurig und heiter zugleich. Mayröcker gab die Bedingungen vor, unter denen der Film sich würde verwirklichen lassen – wollen: Die Gesundheit, die Zeiteinteilung, das Schreiben, die Nichtablenkung, die Zurückhaltung, das Licht, die Scheu, keine anderen Menschen als Tartarotti, die Intimität einer Situation, einer kleinen Kamera, eines schweigsamen, von Tartarotti selbst mitherzustellenden und beachtenden Tons. Die Grenzen des Alters. Kein Film-Plan also, sondern für Tartarotti ein Kommenlassen und Sehen, mit Geduld, Durchhaltevermögen und nachträglicher Geduld, mit sicherer Hand, was bedeutet: einer Hand, die an den rechten Stellen zweifelt, und noch einmal aufzunehmen versucht.

Ich hatte das Glück, Carmen Tartarotti kennen zu lernen, als ihr 1990 der Preis Literarvision der Stadt München für ihren ersten Mayröcker-Film verliehen wurde. Literatur scheint schon lange eine wichtige Rolle in ihrem Leben zu spielen. Ich könnte auch sagen, das Sprechen in Bildern. Bald darauf sah ich Dokumentarfilme Tartarottis, wobei dieser Begriff irreführend ist, sofern er Statisches suggeriert. Tartarotti ist eigenfindig bei der Wahl ihrer Themen, frei, als Künstlerin, und macht nie Filme oder Videoinstallationen über Dinge oder Menschen als Dinge, sondern zeigt Verflechtungen, Räume und die Möglichkeiten, sich in ihnen zu bewegen.

Und dann hatte ich das Glück im Sommer 2008, als Carmen Tartarotti, die in Frankfurt und Südtirol lebt, beschlossen hatte, Teile des Jahres nun auch regelmäßig in Berlin zu verbringen, „Das Schreiben und das Schweigen“ im noch flüssigen Zustand der Endkomposition zu sehen. Ich hatte mir nie wirklich vorgestellt, was es bedeutet, einen Film zu machen, ich meine: man weiß ja, dass ein Film ein Kompositionskunstwerk ist, neben manch anderem, aber ich hatte es nicht so gewusst, wie ich es jetzt sah: aus wie vielen Teilen, Tausenden von Mosaiksteinchen, Tonstückchen, Bildstückchen, die auch immer schon ganze BILDER in sich sind – dieser Film ist voller wunderbarer Bild-Stills, voller Still-Leben –, er zusammengesetzt ist, ein Film, den man ständig anhalten und stehen lassen möchte, was ja eine Form des Schweigens ist, denke ich, dieses Stehen und Schauen, und Leben, still.

Und wie das zusammenfügen, wo – was – wann – wenn es keine Geschichte zu erzählen gibt, oder die erzählte GESCHICHTE, sei es als Reise von A nach B, nicht wichtig ist, weil zwischen A und B, immer, jedes Mal, das ganze Alphabet liegt.

Tartarotti hat keine Gipfelangst, keine Angst vor Entbehrungen und Schatten, obwohl sie auch die Sonne gut kennt, das helle sichtbare Licht, Mayröckers Vorhänge etwa, und alles Grau, diese Farbe, die es nur auf der Erde gibt. Sie mietete eine Wohnung in Wien, ließ sich auf alle Bedingungen Mayröckers ein, und drehte, wann immer sie konnte, durfte, es sich fügte. Allein, ständig unterwegs, abhängig von Glück und Lebensregie. Getragen von einer tiefen Kenntnis der Texte, des Kosmos Friederike Mayröcker. Sie begleitete die Autorin auf Stadtgänge und Reisen, beobachtete, sah sich Gesichter und Verhältnisse an und begann, die „Geschichte“, die das Ablaufen eines Films immer suggeriert, von a zu b zu c so zu entfalten, dass eine Poetologie des Schreibschweigens sichtbar wird. Das ist ganz Tartarotti: wie aus Tausenden von Möglichkeiten Licht, Fenster und Schatten gedreht und aneinandergenäht werden. Ganz nahe kommt der Film in diesen Schnittbewegungen und Fügungen Mayröckers Kompositionsprinzip der Textfuge und Montage, jenen schwingenden Böden geschichteten „Materials“, die ihre Prosa wie ihre Gedichte auszeichnen; ganz nahe kommt er der lebenden, gehenden, schweigend sprechenden Dichterin. Ganz nahe kommt sie so uns. Wie ohne Zelluloid. Wie im Innengespräch.

Durch Fernrohre und Lupen gesehen

Tartarottis Kamera lässt sich infizieren. Sie folgt keinem Programm, sondern nimmt Witterung auf aus dem Raum, den sie betritt bzw. mit dem Film doch eigentlich erst schaffen wird. In diesem letzten Paradox treffen sich das Schreiben, Schweigen und Herstellen erneut, die Kompositionsarbeit in den Bildern verfährt ähnlich wie in Wörtern, wenn auch Wirkung und Bedingungen des Fügens andere sind. Das Schreiben und das Schweigen selbst ist ein Stück Mayröcker-Prosa, „nur“ in einem anderen Modus, ein Stück Leben durch Fernrohre und Lupen gesehen, durch Gedicht, Stimme und Zettel, ein Zettel- und Mach-WERK, Spiegel des im Alter immer stärker gewordenen Mayröcker’schen „Auf-die-Welt-Zuhaltens“, ich könnte auch sagen „Liebens“, und sage auch: der Linsen, der Feinheit der Sprache, der Farben, der Rücksicht, der Erinnerung, der Sehnsucht, des Wissens-Nichtwissens vom Sterben.

Jetzt will ich schweigen, um Sie nicht länger davon abzuhalten, selbst diesen Film zu sehen und dabei einem inneren Gespräch zu lauschen: zwischen Mayröcker und Tartarotti, zwischen Mayröcker und der Kamera, zwischen Mayröcker heute und Mayröcker zu allen Zeiten: früher, jetzt UND in der Zukunft, zwischen Mayröcker und Jandl und Mayröcker, dem Schreiben und Schweigen und Wiegen der Welt.

■ „Das Schreiben und das Schweigen“. Regie: Carmen Tartarotti. Mitwirkende: Friederike Mayröcker, Edith Schreiber u. a. Deutschland/ Österreich/Italien 2009, 93 Min., ab Donnerstag in den deutschen Kinos