: Nach Boom und Bang
Wie geht es Seattle, fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen von Nirvanas Album „Nevermind“ und dem weltweiten Grunge-Overkill? Danke der Nachfrage!
AUS SEATTLE THOMAS WINKLER
Der alte Herr macht einen gebrechlichen Eindruck, aber er besteht darauf: Er wäre lieber gelaufen. Der geschlängelte Weg den sanften Anstieg hinauf bis zu seinem Haus sei für ihn gerade das richtige Maß an täglicher Bewegung. Aber für die Touristen macht er eine Ausnahme, er lässt sich mit dem gemieteten Pontiac nach Hause kutschieren, zeigt die Gedenkstätte und erzählt von seinem ehemaligen Nachbarn: „Kurt Cobain, das war ein sehr netter Mensch.“ Von einer gewissen Courtney Love hat der alte Herr keine so gute Meinung: „Seine Frau, die mochte ich nicht, die war nicht so nett.“
Allzu sehr interessiert er sich dann doch nicht für die Nachbarschaft: Der alte Herr weiß nicht, dass seine, aus persönlichen Erfahrungen gespeiste Meinung fast dieselbe ist wie die von Millionen Fans in aller Welt. Von denen finden sich gegenüber der Villa des alten Herrn einige hundert jedes Jahr ein. Dort, auf einem grünen Hügel, stehen zwei Bänke, von denen sich ein wundervoller Blick auf den Lake Washington bietet. Wichtiger für die Besucher ist allerdings, dass hinter den Bäumen zur Linken das ehemalige Anwesen des ehemals größten Rockstars des Planeten hervorlugt.
Die Pilger haben die Latten der beiden Bänke mit Mitteilungen und Liebeserklärungen übersäht, ein Gästebuch in Holz. Die Garage, über der Cobain einen kryptischen Abschiedsbrief schrieb und sich dann eine Ladung Schrot ins Gesicht schoss, wurde längst abgerissen von den aktuellen Besitzern des Anwesens. Die, verrät der alte Herr, „arbeiten bei Microsoft“.
Der Tod des prominentesten Grunge-Protagonisten war der Höhepunkt und zugleich sinnfällige Abschluss eines weltumspannenden Hypes: Im September 1991 erschien „Nevermind“, das zweite Album von Cobains Band Nirvana, erreichte die Spitzenposition der Billboard Charts, und die Welt war nicht mehr dieselbe – jedenfalls die Welt von Cobain und die der Rockmusik. Das, was jahrelang als „Alternative Rock“ ein gemütliches Dasein in sorgsam abgeschotteten Nischen fristete, beherrschte plötzlich die Charts. Die Alternative war zum Mainstream geworden, Seattle erlebte einen Ansturm: Nach den Reportern aus aller Welt kamen die Plattenfirmenmanager und wedelten mit Verträgen. Ihnen folgten die Musiker, die gewillt waren, diese Verträge zu unterschreiben. Als der Zirkus die Stadt nach Cobains Selbstmord im April 1994 wieder verließ, stand die Musikszene vor den Trümmern: Auf Jahre hinaus kämpfte jede Band aus Seattle mit dem Malus „Grunge“, selbst wenn sie Klezmer gespielt hätte.
Der dafür Verantwortliche ist untergetaucht. Dabei ist sein Name bekannt: Bruce Pavitt gründete in den Achtzigerjahren zuerst ein Fanzine, dann eine Plattenfirma namens SubPop. Zusammen mit Partner Jonathan Poneman nahm er Bands wie Mudhoney, Soundgarden und eben Nirvana unter Vertrag. Die beiden schafften es, deren ungehobelten, vom Punk beeinflussten Rock als Gegenentwurf zum Plastikpop jener Tage in Stellung zu bringen. Und, so sagt es die Legende, Pavitt erfand das Wörtchen „Grunge“. Doch heute mit ihm in Kontakt zu treten, stellt sich als unmöglich heraus. Niemand hat eine Telefonnummer, aber jeder hat eine Geschichte über Pavitt zu erzählen. Die eine hat ihn vor Jahresfrist bei einem Konzert gesehen: Während die Musik dröhnte, sei er ins Stricken vertieft gewesen. Mal soll er Ökodörfer projektieren, mal regelmäßig nach Südamerika reisen, um sich dort schamanistischen Reinigungsritualen zu unterziehen.
Wenn einer eine Telefonnummer von Pavitt hat, dann sein ehemaliger Partner Poneman, aber der gibt sie nicht heraus. Lieber zeigt er die vor wenigen Monaten neu bezogenen, Downtown gelegenen Bürofluchten von SubPop, die noch viel Platz zu weiterer Expansion bieten. In den Neunzigern verkaufte man 49 Prozent der Firma an den Branchenriesen Warner, woraufhin Pavitt ausstieg. SubPop ging trotzdem fast pleite, brachte kaum noch neue Platten heraus und lebte vornehmlich vom Back-Katalog. Heute sind die halblangen Haare Ponemans angegraut, aber seinem Label geht es so gut wie noch nie. Kurz nach dem Besuch reist die gesamte Belegschaft zum Betriebsausflug nach Neuseeland.
Der Erfolg kam zurück, weil man zwar mittlerweile nur mehr zur Hälfte lokale Bands verpflichtet, sich aber trotzdem auf ein, so der Chef, „ziemlich enges Spektrum von Rockmusik“ konzentriert und „die Marke SubPop“ optimal verwertet. Neuverpflichtungen wie The Postal Service, The Shins und Iron & Wine sorgen für gute Absätze und geben dem Verantwortlichen die Freiheit, seine ungefähr 25 Angestellten übertariflich zu bezahlen und sich weiter radikales Gedankengut leisten zu können: „Das politische System ist so abgefuckt, dass diesem Land nur noch eine Revolution helfen kann.“
Die aber, das weiß natürlich auch der Geschäftsmann Poneman, ist weit entfernt, und so begnügt man sich vorerst mit neu geschaffenen Arbeitsplätzen, die auch verdienten Pionieren zugutekommen. Seit Ende letzten Jahres ist Mark Arm im Lager von SubPop beschäftigt. Er ist Sänger und Gitarrist von Mudhoney, Grunge-Band der ersten Stunde und damals erste Anwärter auf den Sprung in den Mainstream. Dann kam „Nevermind“, kam der Erfolg für Nirvana, Pearl Jam oder Soundgarden. Heute ist Arm 43 Jahre alt, hat eine Heroinsucht überstanden, hat im März das zehnte Mudhoney-Album „Under A Billion Suns“ bei SubPop herausgebracht – und verpackt zum Lebensunterhalt Alben von Bands, die es ohne Mudhoney wohl nie gegeben hätte.
Andere haben die Musik ganz aufgegeben. Krist Novoselic ertrug es nicht mehr, bei jedem neuen Versuch stets an der eigenen Vergangenheit gemessen zu werden. Heute lebt der ehemalige Bassist von Nirvana zurückgezogen mit seiner Frau auf einer einsamen Farm südlich von Seattle. Statt Musik zu machen, engagiert er sich in der Politik: Eine von ihm mitgegründete Initiative half, den aktuellen Bürgermeister Greg Nickels ins Amt zu bringen. Der revanchierte sich und behandelte die Musikindustrie als ernstzunehmenden Wirtschaftszweig. Das Film and Music Office wurde installiert und eine Studie in Auftrag gegeben, die erbrachte, dass in Seattle 650 Millionen Dollar jährlich mit Musik umgesetzt werden.
Dass Seattle Grunge überstehen konnte und nun als Musikmetropole zählt, ist das Vermächtnis von Grunge. Auch wenn Ende der Neunzigerjahre keine Band mehr eine Chance hatte, einen Plattenvertrag zu bekommen, weil die Schublade Seattle wie ein Stigma über ihr hing, hat der Erfolg doch dafür gesorgt, dass sich eine in den USA einmalige Infrastruktur entwickeln konnte. Die Stadt hat das Scheitern der vorläufig letzten Rockrevolte überstanden und sich gewandelt von einem verschlafenen Städtchen zur alternativen Metropole. In Seattle glaubt man, New York und Los Angeles Konkurrenz machen zu können, auch weil eine neue Vielfalt ausgebrochen ist. Zwar ist eine Rockband wie Death Cab For Cutie der aktuell erfolgreichste Exportschlager aus Seattle, aber längst, sagt selbst SubPop-Chef Poneman, „gibt es eine starke Hiphop-Szene, gibt es Americana, Folk und elektronische Musik. Wir haben gute Radiosender, hervorragende Plattenläden, haufenweise Labels und ein interessiertes Publikum. All das gab es vor Grunge nicht, bestenfalls eine funktionierende Jazz-Szene. Seattle ist keine Rock-Stadt mehr. Jedenfalls nicht ausschließlich.“
Eines dieser Labels, das momentan womöglich interessanteste in Seattle, heißt Light In The Attic und wird betrieben aus dem Souterrain eines unauffälligen weißen Hauses im eher beschaulichen Bezirk Phinney Ridge. Die drei Teilhaber und zwei Praktikanten drängen sich in zweieinhalb viel zu engen Kellerräumen, die auch noch als Lager dienen, oft bis Mitternacht. Doch mittlerweile rentiert sich die Selbstausbeutung. „Wir wachsen“, sagt Gründer Matt Sullivan und meint auch zu wissen, woran das liegt: „Wir sind einzigartig, aber nicht nur in Seattle, sondern weltweit.“ Tatsächlich: Light In The Attic veröffentlicht Soul und Rock, Rap und Pop, aktuelle Bands und liebevoll gestaltete Re-Issues. Man gräbt vergessene Perlen aus und entdeckt potenziell neue. Hier werden die verschiedenen, sonst in Seattle weitgehend getrennt voneinander vor sich hin werkelnden Szenen miteinander vernetzt. Die Unterhaltungskonzernen angegliederten Major-Plattenfirmen haben die Stadt verlassen, als die Grunge-Kuh gemolken war, aber eine Unzahl von Kleinstlabels hat ihren Platz eingenommen. Von der oft beschworenen Krise des Musikgeschäfts haben Light In The Attic – ebenso wie SubPop – noch nichts bemerkt.
Abends wird aus Seattle eine für amerikanische Verhältnisse untypisch lebendige Stadt. Selbst die streng quadratisch angelegte Downtown mit ihren ohnehin nicht allzu hohen Türmen aus Büroetagen ist nach Geschäftsschluss nicht vollkommen ausgestorben. An ihrer Peripherie finden sich vor allem am Wochenende von den Reichen und bisweilen auch Schönen bevölkerte Diskotheken, in denen man moderne Tanzbodenkultur allerdings vergeblich sucht. Vor allem aktuelle Hits und nicht tot zu kriegende Evergreens werden dort gespielt. Das Nachtleben jenseits des Mainstreams findet vornehmlich im Bezirk Capitol Hill statt, westlich der Innenstadt gelegen. Hier konzentrieren sich auf einige wenige Straßenzüge die nicht ganz so schicken Restaurants, altehrwürdige Kneipen und Clubs.
Im Chop Suey etwa spielen an einem Samstagabend die Blue Scholars, eine zwar nur lokal bekannte, dafür aber in Seattle und Umgebung umso angesagtere Hiphop-Band. Trotzdem ist der mittelgroße Club um acht Uhr abends nur gut zur Hälfte gefüllt. Der Grund: Wie in den meisten Bundesstaaten der USA schreiben die Gesetze vor, dass Alkohol nur ausgeschenkt werden darf an Personen, die mindestens 21 Jahre alt sind. Im Staate Washington allerdings gelten „so viele, so strenge Gesetze“, meint Sullivan von Light In The Attic, „dass die lokale Musikszene nur schwer prosperieren kann“, denn das Angebot für das nachwachsende Publikum ist eingeschränkt. Selbst Menschen, denen anzusehen ist, dass sie demnächst Rente beziehen, müssen eine hochoffizielle ID vorlegen: Amerikaner ihren Führerschein, Ausländer den Reisepass. Deshalb spielen Bands, die vornehmlich jüngeres Publikum anziehen, so genannte All-Ages Shows: Hier wird kein Alkohol ausgeschenkt, dafür kann jeder rein, schlussendlich kommen aber nur die Teenager, die sich an diesem Abend auch im Chop Suey tummeln, ausgestattet mit den weltweiten Insignien der Hiphop-Headz, Elefantenjeans und XXXXL-Anoraks. Für Fans im trinkfähigen Alter spielen die Blue Scholars deshalb noch eine zweite Show am selben Abend. Um zehn Uhr bilden sich vor dem Chop Suey Schlangen aus Studenten und Angestellten, die geduldig auf Einlass warten. Die Gesetze teilen das Publikum auf, die Veranstalter müssen damit leben.
Es sind nicht die einzigen seltsamen Regularien, die die Jugend im Nordwesten der USA vor verderblichen Einflüssen schützen sollen. Bis vor vier Jahren galt in Seattle noch die Teen Dance Ordinance (TDO), die Minderjährigen das Tanzen bei Konzerten verbot. Und Kneipen brauchen bis heute nicht nur eine Lizenz zum Alkoholausschank, sondern auch eine „open light permit“, eine Erlaubnis, Kerzen auf den Tisch stellen zu dürfen. Trotz neuen Bürgermeisters betrieb die Stadt bis letzten Sommer sogar eine Eingreiftruppe namens Joint Assessment Team (JAT), die mit nächtlichen Razzien die Einhaltung der Gesetze überprüfte. So restriktiv sind die Behörden, dass das Stadtmagazin „The Stranger“ eine Renaissance des speakeasy diagnostizierte: Privatleute öffnen ihre Häuser und Wohnungen für Konzerte und andere Veranstaltungen, scheren sich nicht um Altersfreigaben und Alkoholvorschriften.
Bürgermeister Nickels, eigentlich ja von der Musikszene ins Amt gehievt, und seine Verwaltung denken momentan über eine Wiedereinführung der TDO nach. Der Anlass: die Wahnsinnstat eines Amokläufers im März. Der Hobbyschlagzeuger Kyle Huff erschoss in Capitol Hill sieben Menschen, darunter zwei 15-jährige Mädchen, die im Anschluss an einen Abend im Techno-Club eine morgendliche Chill-out-Party in einem Privathaus feierten. Prompt setzten Diskussionen ein, die restriktiven Jugendschutzgesetze und Kneipenvorschriften noch weiter zu verschärfen.
Wer sich dagegen immer noch legal amüsiert, für den geht dafür bisweilen tief in der Nacht die Sonne auf. Dann wird man mitten in einem eher aseptischen Club, der nichtsdestotrotz den martialischen Namen War Room trägt, angestrahlt von der Stabtaschenlampe eines Aufpassers, weil man es nichts ahnend gewagt hat, seinen Fuß auf ein Cocktailtischchen zu stellen. Wer sich gar eine Zigarette angesteckt, wird gleich abgeführt, denn seit dem 8. Dezember ist das Rauchen in Kneipen und Clubs untersagt. Dass das Seattler Nachtleben seitdem komplett nikotinfrei stattfindet, wurde von den Clubbetreibern und Barbesitzern einhellig begrüßt: Schließlich rauchen, sagen jedenfalls die Statistiken, nur noch 15,7 Prozent der Einwohner Seattles. Und nun würden auch wieder Nichtraucher den Weg in ihre Etablissements finden, den wenigen übrig gebliebenen Rauchern bleibt eh keine andere Wahl.
Direkt unter dem Wahrzeichen der Stadt, der Space Needle – dem in natura vergleichsweise mickrig anmutenden Turm von der Weltausstellung 1962 –, steht ein weiterer futuristisch erscheinender Bau. Im vom Stararchitekten Frank Gehry entworfenen und von Microsoft-Mitgründer Paul Allen finanzierten „Experience Music Project“, das wirkt wie ein Raumschiff, das sich aus einem anderen Sonnensystem hierher verirrt hat, soll die Geschichte der populären Musik erfahrbar werden. Nun ist dort neben Bruchstücken einer Gitarre, die Jimi Hendrix, ein anderer Sohn der Stadt, zerlegt hat, auch die Fender Stratocaster von Cobain zu sehen und andere Artefakte aus der Popvergangenheit Seattles. Trotzdem ist das im Jahr 2000 fertig gestellte EMP immer ein Fremdkörper in der Stadt geblieben, einige Aktivisten meinen gar, die Ausstellungen zu lokalen Phänomenen seien schlecht recherchiert und voller Fehler. Allerdings wird das Museum ohnehin nahezu ausschließlich von Touristen besucht. Früher stand die atemberaubende Architektur auch für Konzerte offen, doch zuletzt, so wird gemunkelt, habe der Milliardär die Lust an seinem Spielzeug verloren und das Budget gekürzt. Die technische Ausstattung wirkt überholt und die oft beschworene Interaktivität veraltet. Zudem hätte man erwartet, dass in einer Stadt wie dieser, mit dem vor Ort vorhandenen Braintrust und der Unzahl an Hightechfirmen, die Ausstellungen weniger bieder konzipiert wären. „Wahrscheinlich schenkt Allen den Bau irgendwann der Stadt“, spekuliert ein spöttischer Jonathan Poneman, „und die machen dann einen Parkplatz daraus.“
Auch die Zeiten, in denen aus Seattle Musik kommt, die auch im Rest der Welt interessiert, könnten bald der Vergangenheit angehören. Zwar ist das Platzen der Dotcom-Blase noch nicht ganz verdaut, die Arbeitslosenquote immer noch hoch im US-Maßstab, aber international agierende Konzerne wie Microsoft, Amazon, Starbucks und Boeing garantieren gut bezahlte Jobs, und eigentlich ist Seattle längst zu teuer geworden für einen Musiker und seine karge Patchwork-Existenz. „Seattle ist immer noch progressiv, aber halt auch sehr wohlhabend geworden“, meint Poneman, „die Subkultur ist längst dabei, nach Portland abzuwandern.“ Auch Matt Sullivan vom Kleinstlabel Light In The Attic findet die gut 180 Meilen südlich gelegene Kapitale von Oregon „cooler“ als die eigene Stadt. Dort gebe es mittlerweile eine Aufbruchstimmung „wie in Seattle in den Eighties – vor Microsoft, vor dem Internet-Boom, vor Grunge“.
Ebenfalls Richtung Süden, aber abseits an der Küste liegt Aberdeen. Das Arbeiterstädtchen läuft nicht Gefahr, zur Underground-Metropole zu werden. Kurt Cobain wuchs hier auf und suchte so bald wie möglich das Weite. Mittlerweile, darauf legt Paul Fritts großen Wert, hat sich die Situation für die 16.000 Einwohner von Aberdeen merklich verbessert, auch wenn er die aktuellen Probleme – vor allem Arbeitslosigkeit und der grassierende Crystal-Meth-Missbrauch – nicht verharmlosen möchte. An ihrer Lösung arbeitet Fritts aktiv als Polizist, Stadtverordneter und Mitglied im „Kurt Cobain Memorial Committee“. Die im Namen festgelegte Idee hat man mittlerweile aufgegeben. „Die Fans wollen kein Denkmal“, erzählt Fritts’ Mitstreiter Jeff Burlingame, ein bei der Lokalzeitung beschäftigter Journalist.
Das Komitee, das auch Kurts Großvater Leland Cobain zu seinen Mitgliedern zählt, hat bislang erreicht, dass die Stadtverwaltung unter dem Ortseingangsschild eine weitere Tafel anbringen ließ: Mit „Come As You Are“, einem Songtitel von Nirvana, werden die Besucher Aberdeens nun begrüßt. Von denen, glauben Fritts und Burlingame, könnten entschieden mehr kommen, wenn die Stadt die Chance wahrnähme, die ihnen die Vergangenheit bietet. Bisher verirren sich nur selten Touristen nach Aberdeen. Das schwarz gewandete Pärchen, das an diesem ungewöhnlich sonnigen Freitagnachmittag die Hauptstraße entlangspaziert, eine Kamera um den Hals, identifizieren die Männer vom Cobain-Komittee sofort als Jünger des größten Sohns der Stadt. Fraglich allerdings, ob das Pärchen so ohne weiteres die Stätten finden wird, auf denen dieser dereinst wandelte: Das vom Verfall bedrohte Haus, in dem Nirvana die ersten Übungseinheiten absolvierten, ist ebenso wenig ausgeschildert wie der Wishkah River, in den möglicherweise ein Teil der Asche Cobains gestreut wurde, oder die Brücke über den Fluss, unter der Cobain manche Nacht zugebracht haben soll – mittlerweile erwiesenermaßen eine jener vielen falschen Legenden, mit denen Burlingame in seinem eben erschienenen Buch „Kurt Cobain: Oh Well, Whatever, Nevermind“ aufräumt.
Das nächste Projekt des Komitees, das gerade um seinen Status als gemeinnützige Organisation kämpft, ist ein Jugendzentrum, das den Namen des berühmten Verstorbenen tragen soll. Die Spenden, mit denen bereits die Ortsschildergänzung finanziert wurde, kommen aus der ganzen Welt, auch aus Südamerika, Asien und Europa. Was Grunge so einzigartig machte, war wohl, dass niemals zuvor und niemals seitdem eine streng lokale Musikszene solch eine globale Wirkung entfalten konnte. Doch als der Rausch vorbei war, musste die Generation Y feststellen, dass sie zwar nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen war, aber nicht mal genug Ideale vorzuweisen hatte, die zu verraten sich gelohnt hätten. So markierte Grunge kaum mehr als den Einzug neuer Vermarktungsstrategien in die hohl glitzernde Welt des Pop: Man versuchte, Authentizität systematisch zu verkaufen, und in der Folge wurde Flanell plötzlich unbezahlbar. Die grob karierten Hemden, erinnert sich Paul Fritts, trug damals in Aberdeen jedermann, vor allem zur körperlichen Arbeit. Sie waren robust und billig. Kaum waren sie zum Markenzeichen einer Jugendbewegung geworden, kosteten sie plötzlich das Dreifache.
Ein letzter Ausflug in die Vergangenheit führt nach Renton, eine Suburb von Seattle. Den Weg zum Greenwood Cemetery finden manchmal bis zu zehn Rockfans täglich, berichtet der örtliche Bestatter und bittet um einen Eintrag ins Gästebuch. Schließlich liegt hier der andere Weltstar aus Seattle begraben. Die letzte Ruhestätte von Jimi Hendrix entpuppt sich allerdings als ausgesucht hässliches Monstrum aus Marmor. Ein bärtiger Mittdreißiger umrundet getragenen Schrittes die Gedenkstätte, eine akustische Gitarre im Anschlag und klimpert selbstvergessen vor sich hin. Kevin kommt jeden Tag aus dem benachbarten Trailer Park hierher, „jedenfalls im Sommer“. Und immer am 27. November, erzählt er, gibt es eine kleine Party am Mausoleum. Demnächst feiert Hendrix seinen 64. Geburtstag.
THOMAS WINKLER, 41, lebt als freier Autor in Oranienburg