Im Bauch von Mitte

Die Hackeschen Höfe werden 100 Jahre alt. Auch wenn die Geschichte sie mehrfach verwandelt hat – die Nutzungsvielfalt aus Leben, Arbeiten und Kultur ist geblieben. Heute dienen die Höfe jungen Urbaniten als Bühne

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Wer abends durch die Hackeschen Höfe flaniert und sich um die eigene Achse dreht, dem wird schwindelig. Spuren von buntem Licht ziehen vorbei, Reklametafeln, Schaufenster, illuminierte Eingänge von Restaurants, Bistros und Läden, von Clubs, dem Filmtheater und dem Chamäleon-Varieté. Vom Dachgeschoss herunter flimmern Bürolampen hinter viel Glas und das Logo der Heinrich-Böll-Stiftung in Grün, rot leuchtet es aus dem „Ampelmann“-Geschäft, blau aus einem Modeatelier. Schließt man dann noch die Augen und hört die vielen Menschen und den Lärm in den acht Höfen, die hupenden Autos und die S-Bahn draußen, spürt man das Leben und Gewirr der Großstadt, die hier zum Mythos – der „Berliner Mischung“ – geronnen ist.

Die Höfe vis-à-vis des Hackeschen Markts, die am 23. September 1906 eröffnet wurden, sind und waren schon immer Projektionsflächen für die Sinne. Heute, wo in den acht Höfen zwischen der Rosenthaler- und der Sophienstraße auf 27.000 Quadratmeter Raum rund 40 schicke Gewerbeunternehmen neben Kultureinrichtungen und Wohnungen untergebracht sind, „brummt“ es freilich überwiegend modisch, grell und teuer. Die Szene aus den ersten Nachwendejahren, die die Räume mit Alternativkultur belebte, ist abgelöst worden von den neuen Urbaniten und einem kommerziell gefärbten Design. Derzeit findet wieder ein Wandel statt: Die Höfe werden zum Zentrum junger Mode. Die ersten Gewerbemieter von 1994 ziehen schon wieder aus, etwa die Architekturgalerie Aedes. Die Mieten sind hoch, das Ambiente geht an manchen Ecken nach unten.

Reibung mit den Nachbarn

Dass die Höfe dennoch bunt und lebendig, durchmischt und geschäftig geblieben sind, liegt einerseits daran, dass sich die Besucher von Restaurants und Böll-Stiftung, von Kino, Theater und Clubs mit den weniger solventen und nicht sanierten Nachbarn nach wie vor austauschen und reiben – wie denen aus dem lange besetzten „Haus Schwarzenberg“. Die Hackeschen Höfe sind der Bauch von Mitte, hier vermengt sich – seit der aufwändigen Restaurierung im Jahr 1995 – das junge Berlin nach dem Fall der Mauer.

Andererseits wurde die besondere Mischung aus Leben und Arbeiten, Kultur und Gewerbe dem Ort schon von seinen Erbauern in die Wiege gelegt. Das 1859 vom Glasfabrikanten Hans Quilitz erworbene und von seinen Erben bis 1906 erweiterte Hofgefüge an der attraktiven Lage zwischen dem Zentrum und der aufblühenden Spandauer Vorstadt wurde quasi als komplexes Stadtquartier entwickelt. Das typische Konzept der „Mischnutzung“ mit 80 Wohnungen und vielen Gewerberäumen war im prosperierenden Berlin um 1900 städtisches Bauprogramm.

Ein Hauch von Jugendstil

Der Unterschied zu anderen Wohn- und Gewerbehöfen bestand im repräsentativen Charakter der Höfe. Der Architekt August Endell, damals laut Auftraggeber „verantwortlich für die Fassade des erstens Hofs und die „gesamte Dekoration des inneren Aufbaus“, überzog die Wände mit schwarz, rot und weiß glasierten Klinkern, was einen wunderbaren Hauch von Jugendstil versprüht. Er widersprach damit dem wilhelminischen Stil, der überladen und mit Pathos die Fassaden quälte. Fassade und Innenarchitektur bildeten hier ein leichtes Spiel aus Farbe und Form – ein Unikum unter Berlins Gewerbehöfen.

Waren die ersten Hofmieter vornehmlich kleine Textil- und Tabakfabrikanten, Kürschnereien und Nahrungsmittelhersteller, belebte in den 1920er-Jahren auch das „Milieu“ die Höfe: Arbeiter und Huren, Tanzgastronomien und Werkstätten, Intellektuelle, expressionistische Maler und Schriftsteller.

In Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman „Berlin Alexanderplatz“ wird das vielleicht gelungenste Panorama einer in ihren Funktionen „verschmelzenden“ Gesellschaft im Viertel rund um den Hackeschen Markt aufgerissen. Alles war dicht gedrängt – und mittendrin Franz Biberkopf.

Döblin schreibt: „Er wanderte die Rosenthaler Straße am Warenhaus Tietz vorbei, nach rechts bog er ein in die schmale Sofienstraße. Er dachte, diese Straße ist dunkler, wo es dunkler ist, wird es besser sein. Empfiehlt ihm zuerst ein älterer Mann am Hackeschen Markt, sich um sexuelle Aufklärung zu kümmern. ‚Was ist sexuelle Aufklärung?‘, fragt Franz und mag nicht recht.“

Den Nazis verhasst

Die Nazis hassten nicht nur das Endellsche Labyrinth aus Festsälen und Puffs, Läden und Wohnungen. Sie vertrieben und ermordeten auch die jüdischen Bewohner und Besitzer. 1940 wurde der damalige Eigentümer der Höfe, Jakob Michael, enteignet. Die jüdischen Wohnmieter und Gewerbetreibenden – im Jahr 1939 gab es noch 179 jüdische Bewohner – wurden deportiert und von der SS umgebracht. Die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Vielfalt in den Hackeschen Höfen endete damit erst einmal.

Es war ein Glück, dass die Höfe den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs nur leicht beschädigt überstanden. Auch zogen 1949, nach der Übernahme der Immobilie durch den Ostberliner Magistrat, wieder Mieter in die Wohnungen und Geschäfte. Noch 1977 gehörten zu den Nutzern des nun denkmalgeschützten Baus städtische Verwaltungen und Schneidereien, Tanzensembles und Werkstätten. Kulturelles Leben, Gastronomien und Geschäftigkeit fehlten aber. Die Festsäle wurden zu Lagerräumen, die Höfe zu Autowerkstätten und Stellflächen für Foron-Kühlanlagen.

Der Fall der Mauer und die Abwicklung vieler DDR-Betriebe läuteten die zweite Zäsur ein. Fast 5.000 Quadratmeter Gewerbefläche standen damals leer. Hätten nicht alternative Künstler, das Chamäleon-Varieté, die Jazz- und Tanzszene dem Ort neues Leben eingehaucht, wären die maroden Hackeschen Höfe schon bald zum Spekulationsobjekt verkommen. 1993 beschloss der Bezirk Mitte die Restitution der Immobilie zugunsten der Erben Michaels. Diese verkauften das Gelände an Roland Ernst, der mit einer aufwändigen Sanierung begann. Hinzu kamen die Restaurierung der Fassade und der Dachaufbau, in dem jetzt „Böll“ sitzt.

Man kann ob der hippen Atmosphäre in den Hackeschen Höfen und ihrer „overdesignten“ Erneuerung die Nase rümpfen und all den Promischick zu Recht abtun. Dass die Höfe seit nunmehr 100 Jahren das ursprüngliche Konzept der Nutzungsvielfalt und das „Prinzip einer lebendigen Stadt“ durchgehalten haben, wie Mittes Bürgermeister Joachim Zeller zum Geburtstag stolz verkündet, macht sie doch außergewöhnlich.