„Wir brauchen mehr“

DEMOGRAFIE Bevölkerungsforscher Klingholz plädiert für die Zuwanderung qualifizierter Menschen – egal, aus welchem Kulturkreis sie stammen

■ 57, leitet seit 2003 das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Der Chemiker und Biologe arbeitete zuvor für die Zeit und die Geo. Foto: Archiv

taz: Herr Klingholz, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer will die Zuwanderung „aus anderen Kulturkreisen“ unterbinden. Eine sinnvolle Idee?

Reiner Klingholz: Die Seehofer-Debatte ist absurd. Momentan haben wir überhaupt keine Zuwanderung. Sie wird durch geltendes Recht verhindert. Dafür hat die leise Politik unter Wolfgang Schäuble gesorgt, als er noch Innenminister war. Langfristig bräuchten wir deutlich mehr Zuwanderer.

Wie viele denn?

Wenn man die Sterbefälle ausgleichen wollte, wären es jetzt etwa 200.000 Zuwanderer im Jahr – und 2030 schon 400.000. Wollte man wenigstens die nötigen Fachkräfte und ihre Familien ins Land locken, wären es 200.000. Das ist der Saldo. Tatsächlich müssten etwa zwei- bis dreimal so viele Menschen nach Deutschland kommen, denn es ziehen ja auch viele der Zuwanderer zurück in ihre Heimat.

Seehofer argumentiert, dass ab 2011 in der EU komplette Freizügigkeit für die Arbeitnehmer herrscht – und dann genug Osteuropäer nach Deutschland kommen würden.

Die Zuwanderung aus Osteuropa wird kaum reichen. Denn Osteuropa steuert auf ein eigenes demografisches Problem zu, weil seit der Wende weniger Kinder geboren wurden. Zudem entwickeln sich viele dieser Länder wirtschaftlich gut und bieten ihrem qualifizierten Personal beste Einkommensmöglichkeiten. Schon jetzt gehen viele Polen zurück in ihre Heimat.

Ein besonderes Problem macht Seehofer bei den Muslimen aus. Sollte man also keine Türken und Araber nach Deutschland lassen?

Für die Integration kann es ein Problem sein, wenn aus kulturellen Gründen etwa Frauen nicht gleichgestellt sind und die Berufschancen der Mädchen behindert werden. Dies hat aber weniger mit der Religion zu tun als mit dem Bildungsstand der Eltern. Wir sollten vor allem qualifizierte Zuwanderer anwerben. Da ist es egal, wo sie herkommen.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN