: „Wir hatten kein Privatleben“
SCHÜLERLEBEN Susan Seddiq-Zai hat ihr Abitur 2010 in Hamburg gemacht – und gehörte damit zum ersten G 8-Jahrgang und konnte vergleichen: Ihr Abitur machte sie mit den G 9-Schülern, die ein Jahr mehr Zeit hatten
■ 22, lebte bis vor Kurzem in Hamburg und studiert jetzt in Kiel Psychologie. Sie besuchte das Gymnasium Kirchdorf/Wilhelmsburg, heute Helmut-Schmidt-Gymnasium, und gehörte dort zu den ersten SchülerInnen in Hamburg, die am G 8-System teilnahmen.
Die Anderen waren die G 9er und wir waren die G 8er. Wir hatten länger Schule, weniger Freizeit und mussten trotzdem alles können, was die anderen auch konnten.
Schon bevor wir in der Oberstufe waren, hatten wir bis 16 oder 17 Uhr Schule. Wenn wir uns über zu viele Hausaufgaben oder zu viel Unterrichtsnachbereitung beschwert haben, hieß es von den Lehrern nur: „Ihr müsst am Ende so weit sein wie die anderen, und die sind schon viel weiter und besser als ihr.“ Ich glaube, dass uns die Lehrer ein bisschen damit erpressen wollten. Es gab einfach viel Druck und das war mit das Schlimmste. Dass sie immer gesagt haben, dass die anderen viel besser und weiter sind. Trotzdem haben die Lehrer versucht, das Beste daraus zu machen. Die waren zwar auch nicht so begeistert von G 8, aber ich glaube, die haben getan, was sie konnten; das war zwar nicht immer gut, aber sie haben es versucht.
Eigentlich ist das Prinzip so, dass man vormittags Unterricht hat, zum Beispiel Deutsch, und das dann nachmittags vertieft, also noch mal wiederholt. Das ist eigentlich eine gute Sache. Aber bei uns wurde das nicht gemacht. Wir hatten an einem Tag bis circa vier verschiedene Fächer, die passten alle nicht zusammen, aber man musste das alles lernen. Immer in Doppelstunden.
Dazu sollte es in der Schule Mittagessen geben. Dafür wurde extra eine Cafeteria gebaut, mit richtiger Küchenausstattung. Trotzdem gab es Essen von einem Caterer, die Bestellung war tierisch kompliziert – noch komplizierter war es, das Geld wiederzubekommen, wenn man krank war. Es wäre einfacher gewesen, wenn es über die Schule gelaufen wäre. Es haben auch recht wenige das Angebot in Anspruch genommen. Zum einen war es für viele zu teuer, die bekamen was von den Eltern mit oder sollten sich beim Discounter in der Nähe ein Brötchen holen, zum anderen war es die einzige etwas längere Pause am Tag, da hatte man nicht unbedingt Lust am Tisch zu sitzen, man wollte sich auch mal bewegen. Man hat die Zeit dann eigentlich nur abgesessen und gewartet, dass der Unterricht weitergeht. Man hatte da keine richtige Freizeit, aber auch nicht wirklich was zu tun.
Ich finde am Ende hat man schon gemerkt, dass uns ein Jahr gefehlt hat. Ich fand uns noch nicht ganz so reif wie die aus dem G 9. Die geistige Reife fehlte bei manchen ein wenig. Das eine Jahr hätte vielleicht geholfen, bevor man entscheidet, was man den Rest seines Lebens machen möchte. Egal ob man 18 oder 19 Jahre alt ist, es ist sowieso blöd, dass man das so früh entscheiden muss, aber ich glaube, das eine Jahr hätte wirklich was gebracht.
Das Prinzip von G 8 ist eigentlich nicht so schlecht, wenn man es richtig gemacht hätte, dann wäre es vielleicht ganz gut gewesen. Wir hatten schon sehr früh dieses Konkurrenzdenken, vielleicht früher als andere. Wir wurden immer mit dem Jahrgang über uns verglichen und bekamen immer erzählt, wie gut die Älteren sind und wie schlecht wir seien und wie viel wir noch nachholen müssen. Vielleicht hat uns das etwas besser auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, aber es war auch sehr demotivierend.
Wir hatten einfach kein Privatleben mehr. Wir hatten sehr lange Schule, danach noch Hausaufgaben, und wer wollte, konnte zweimal die Woche zu einer Hausaufgabenhilfe. Die fand dann aber noch nach dem Unterricht statt, so um 18 Uhr. Da ging dann auch keiner mehr hin. Man geht im Winter morgens im Dunkeln um 7 Uhr aus dem Haus und kommt im Dunkeln um 19 Uhr wieder? Ich glaube, das haben drei Leute in Anspruch genommen, insgesamt.
Ich glaube aber nicht, dass man den Schülern damit Chancen verbaut. Die, die von der Schule gegangen sind, weil ihnen das Gymnasium zu schwer war, die hätten es auch mit einem Jahr mehr nicht geschafft. Aber einige sind auf die örtliche Gesamtschule gewechselt, auch wenn die einen schlechteren Ruf hatte. Dort gab es noch für alle das G 9 und deshalb hieß es, dort sei es einfacher, die haben dann da auch Abitur gemacht. Ich glaube, am Ende waren wir alle in etwa auf demselben Stand. PROTOKOLL: FRIDA KAMMERER