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Archiv-Artikel

Balkanmetropole ohne Plan

Am 1. Januar wird Bulgarien der EU beitreten. Anders als viele Metropolen in Europa wächst die Hauptstadt Sofia rasant. Zur Wende gab es 800.000 Einwohner, heute sind es 2 Millionen. Einen städtebaulichen Plan gibt es nicht. Den soll die EU bringen

von UWE RADA

Bemerkenswert am Wappen von Sofia ist nicht seine bildliche Symbolik, sondern ein Satz: „Sie wächst, aber sie altert nicht.“ Sofias Leitspruch stammt aus dem Jahre 1900, zwei Jahrzehnte nachdem Bulgarien die über 500 Jahre währender Herrschaft der Türken losgeworden ist. Und er ist tatsächlich emblematisch geworden für die Entwicklung der Balkanmetropole. Im Jahr der Befreiung 1878 hatte Sofia 20.000 Einwohner. Heute gehört es mit Bukarest zu den größten Ballungsräumen Südosteuropas.

Schon die Fahrt vom Flughafen ins Zentrum lässt jeden Zweifel verfliegen. Hier zieht keine europäische Stadt mit geordneten Vorstädten und kompaktem Zentrum vorbei, sondern das, was der bulgarische Kulturwissenschaftler Iwajlo Ditschew eine „fluide Stadt“ nennt: einzelne Hochhäuser, Plattenbaugebirge, mehrspurige Schnellstraßen, dazwischen Kioske und Wellblechsiedlungen. Ein amorpher Ballungsraum, der nur noch eine natürliche Grenze hat – das Witoscha-Gebirge mit seinen bis zu 2.290 Meter hohen Gipfeln.

Anders als die meisten Städte in Europa gehört Sofia mit dem bulgarischen Beitritt im Januar 2007 zu jenen Metropolen in der Europäischen Union, deren Wachstum ungebrochen ist. Mehr als 1,2 Millionen Einwohner hat Sofia heute, offiziell. Schätzungen der Stadtverwaltung zufolge dürfte die Zahl der Sofioter inzwischen die Zweimillionengrenze erreicht haben. In Sofia, zur Wende noch 800.000 Einwohner, lebt damit jeder vierte der 8 Millionen Bulgaren. Eine solche Verstädterung kennt man sonst nur aus den Megacities in Afrika oder Asien. Und wie dort verschiebt sich auch die Wahrnehmung von Zentrum und Peripherie. Das wirkliche Sofia findet man nicht im lebendigen Stadtzentrum mit seinen Cafés, Boutiquen und Flaniermeilen. Es liegt draußen in den Trabantenstädten Ljulin, Mladost (Jugend), Druschba (Freundschaft) oder Nadescha (Hoffnung).

Nach Ljulin fährt seit 2001 eine U-Bahn. Sieben Stationen zählt die Sofioter Metro, sie legt die 14 Kilometer lange Strecke vom Unabhängigkeitsplatz im Stadtzentrum in die 150.000 Einwohner zählende Trabantenstadt in erstaunlicher Geschwindigkeit zurück. Wer in Ljulin aus der Metro steigt, sieht sofort: Hier wurde kein Armutsviertel ans Zentrum angebunden, sondern ein dynamischer Bezirk. An den Hauptstraßen stehen neue Einkaufszentren, Baumärkte und Neubaublocks. Selbst die Plattenbauten strahlen nicht mehr das Einheitsgrau vergangener Zeiten aus. Vielmehr gleichen sie einem orientalischen Flickenteppich. Manche Fassadenteile sind weiß getüncht, andere in Ocker oder Grün gehalten. Der Grund: 90 Prozent der Sofioter leben in Eigentumswohnungen. Nachdem die Eigentümer in den letzten Jahren ihre Wohnungen in Schuss gebracht haben, sind nun die Fassaden an der Reihe – Stadterneuerung nach dem Patchworkprinzip.

Aber auch die Sanierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, was sich hinter den bunten Fassaden verbirgt. Fast jede Familie vermietet inzwischen unter – an einen der zahlreichen Neuankömmlinge, die aus den Dörfern ohne Zukunft in die bulgarische Hauptstadt strömen.

Gleich hinter der mächtigen Alexander-Newski-Kathedrale, die nach der Unabhängigkeit als Dank an die russischen Befreier von der Türkenherrschaft erbaut wurde, befindet sich die Moskowska-Straße. Hier hat die Stadtverwaltung ihren Sitz, für viele die korrupteste Behörde in ganz Bulgarien. Einer, der der Korruption den Kampf angesagt hat, ist der stellvertretende Bürgermeister Minko Gerdschikow. Doch die Korruption, die Macht der Mafiabosse und die zahlreichen Auftragsmorde in der Stadt sind nicht die einzigsten Probleme des parteilosen Politikers.

Sorge bereitet ihm auch das ungeordnete Wachstum der Stadt. Sichtbarstes Zeichen dafür ist der Dauerstau, in dem Sofia Tag für Tag steckt. „Vor ein paar Jahren hatten wir noch 300.000 Autos, heute sind es eine Million“, sagt Gerdschikow. Nicht nur auf dem Wasil-Lewski-Boulevard, einer der Ringstraßen um die Innenstadt, ist die Blechlawine zum Sinnbild für die unbewältigten Probleme der Stadt geworden. Der Ausbau der U-Bahn, mit dem die Stadtverwaltung auch die Trabantenstadt Mladost und den Flughafen ans Zentrum anschließen möchte, wird daran kaum etwas ändern.

Eines der Viertel, in das noch nicht einmal eine Straßenbahn führt, ist Fakulteta. Im größten Romaviertel Sofias leben inzwischen mehr als 35.000 Menschen. Fakulteta ist ein Elendsquartier, in das kaum ein Fremder einen Schritt wagt. Und es ist eine demografische Zeitbombe. „Der Anteil der Roma an der bulgarischen Bevölkerung ist auf 5 bis 8 Prozent gewachsen“, meint die Soziologin Rajna Gawrilowa, die für einen Dachverband bulgarischer NGOs arbeitet.

Liegt die Geburtenrate der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung bei 1,3 Kindern pro Familie, bekommt eine Romafamilie durchschnittlich 3 Kinder. Die Roma leben nicht mehr nur in ihren traditionellen Ghettos, sondern mehr und mehr in neu errichteten Wellblechsiedlungen am Rand der großen Wohnblocks. „Ethnische Konflikte bleiben da nicht aus“, sagt Gawrilowa. Wahlerfolge der Populisten auch nicht. Die nationalistische Bewegung „Ataka“ hat bei den letzten Parlamentswahlen mit ihren romafeindlichen und antitürkischen Parolen fast 10 Prozent der Stimmen bekommen. Während Gawrilowa in Zusammenarbeit mit der Stiftung „Open Society“ des US-Milliardärs George Soros Schulprojekte für Romakinder ins Leben gerufen hat, steht die Stadtverwaltung in der Moskowska-Straße eher hilflos vor dem Romaproblem. Einige Wohnungsbauprogramme sind – auch an den Roma – gescheitert. Viele Bulgaren glauben, die Minderheit der Roma und Türken würde von der Stadt und von Brüssel bevorzugt.

Hinter diesen Problemen verbirgt sich freilich ein ganz anderes: das Fehlen eines übergeordneten Stadtentwicklungsplans, der das Wachstum der explodierende Metropole ordnet, städtische Entwicklungachsen definiert, Grünflächen sichert und Prioritäten bei Investitionen in die Infrastruktur setzt. Eigentlich liegt ein „städtebaulicher Plan“ bereits seit 6 Jahren in den Schubladen des Stadtarchitekten Petar Dikow. „Doch beschlossen ist er bis heute nicht“, sagt Minko Gerdschikow, der stellvertretende Bürgermeister. Nicht die Sofioter Stadtverwaltung ist in Bulgarien für die Stadtplanung zuständig, sondern das nationale Parlament. „Dort aber“, sagt Gerdschikow, „hat die Baumafia ihre Abgeordneten“.

Wo es keinen Plan gibt, kann die Mafia schalten und walten, wie sie will. Wie das funktioniert, erklärt Gerdschikow so: „Weil nirgendwo steht, wo gebaut werden darf und wo nicht, geht der Investor zum Bezirksarchitekten. Der sagt dann Ja oder Nein. Am Ende ist alles ist eine Frage des Preises.“ Gerdschikow hofft auf die EU und damit auf die Einführung der kommunalen Selbstverwaltung in Bulgarien.

Welchen Einfluss die Baumafia in Sofia hat, zeigt sich, wenn man vom Zentrum in den Süden der Stadt nach Losenez fährt. Am Tscherni-Wrach-Boulevard steht nicht nur der gigantische nationale Kulturpalast aus dem Jahre 1981. Weithin sichtbar ist auch das Kempinski-Hotel, um das herum ein postmoderner neuer Stadtteil entstanden ist. Eine Eigentumswohnung in einem dieser Blocks kostet 1.000 Euro pro Quadratmeter. Für die Sofioter mit einem Durchschnittseinkommen von 130 Euro im Monat ist das unbezahlbar. Für die Elite aus kommunistischen Zeiten, die sich nach der Wende bereichert hat, gehört Losenez dagegen zu den bevorzugten Wohnvierteln.

Während die Baumafia einen Neubaublock nach dem andern hochzieht, wird im Zentrum der Stadt kaum investiert. Selbst am Witoscha-Boulevard, der Nobelmeile Sofias, blättern die Fassaden. Mit Sanierung lässt sich eben weniger Geld verdienen als mit einem Neubau. Es sei denn, die Altbausanierung verläuft im großen Stil und an den Behörden vorbei. Erst in der letzten Woche ist in der Alabinstraße, keine fünf Minuten vom Witoscha-Boulevard entfernt, ein Haus zusammengestürzt. Zwei Passanten, die mit dem Auto an dem Gebäude vorbeifuhren, waren auf der Stelle tot. Beim Umbau des Geschäftshauses war zur Vergrößerung der Verkaufsfläche eine tragende Wand entfernt worden.

Dass Wachstum und Wildwuchs mit dem Beitritt Bulgariens in die EU zu Ende gehen, glaubt niemand. „Sofia wächst, es fließt ausweichend hinunter in den Südosten und den Berg hinauf“, schaut der Kulturwissenschaftler Iwajlo Ditschew in die Zukunft seiner „fluiden“ Stadt. „Weiß Gott, ob es nicht bald drei Millionen Einwohner hat.“