: „Falls er sich vor Doktoren in Acht nimmt, kann er noch lange leben“
CHARITÉ Bei der Untersuchung des von einer Kutsche überfahrenen Herrn Beyer fielen die „lächerlichsten Mißverständnisse“ vor, kann Kleist berichten. So lächerlich, dass „selbst die Todtkranken“ lachen mussten
■ Andere sind es, aber nur die taz heißt auch so: Tageszeitung. Trotz des massiven Angriffs der elektronischen Medien befindet sich die Nachrichtenverbreitung auf bedrucktem Papier rein quantitativ auf einem Höhepunkt, auch und gerade in Berlin, wo nicht weniger als zehn täglich erscheinende Presseerzeugnisse um Marktanteile konkurrieren.
■ Vor exakt 200 Jahren war das Konzept „Tageszeitung“ erst im Entstehen, und der Schriftsteller Heinrich von Kleist (1777–1811) hatte an seiner Entwicklung entscheidenden Anteil. Die Berliner Abendblätter, die Kleist im Ein-Mann-Betrieb ab dem 1. Oktober 1810 ein halbes Jahr lang produzierte und herausgab, mischten dabei dichte literarische Texte mit lapidaren Meldungen der Gattung „Buntes“, jeden Tag neu, von Montag bis Samstag.
■ Neben „Miscellen“ (Vermischtem) und „Polizeilichen Tagesmittheilungen“ finden sich auch andere Formen, die uns heute noch vertraut sind, in den Abendblättern – etwa Briefe an den Herausgeber, die dieser oft auch beantwortete.
■ Die Germanisten Roland Borgards und Fotis Jannidis wollen das „für die deutsche Literaturgeschichte wie die Geschichte der Publizistik denkwürdige Ereignis“ auf besondere Weise neu erlebbar machen: Sie bieten die Abendblätter im E-Mail-Versand an.
■ Wer sich unter https://lists.uni-wuerzburg.de/mailman/listinfo/berliner.abendblaetter in die Mailingliste der Professoren einträgt, erhält noch bis zum 30. März 2011 täglich außer Sonntag ein Blatt von Kleist – um 17 Uhr, denn um diese Zeit kamen die Abendblätter aus der Druckerpresse. (clp)
Ganz so viel hat sich gar nicht verändert seit damals: Die am 13. Oktober 1810 gedruckte, namentlich nicht gekennzeichnete, aber offenkundig von Kleist verfasste Unfallmeldung könnte auch heute erscheinen – leicht verändert, versteht sich. Damals machten rasende Kutschen die Berliner Straßen unsicher, heute sind es eben Lkws. Der Artikel mit humoristischem Einschlag zierte die Rückseite der im Interview erwähnten „hochliterarischen“ BildbeschreibungDer von einem Kutscher kürzlich übergefahrne Mann, Namens Beyer, hat bereits dreimal in seinem Leben ein ähnliches Schicksal gehabt; dergestalt, daß bei der Untersuchung, die der Geheimerath Hr. K., in der Charité mit ihm vornahm, die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen.
Der Geheimerath, der zuvörderst seine beiden Beine, welche krumm und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte, fragte ihn: ob er an diesen Gliedern verletzt wäre? worauf der Mann jedoch erwiederte: nein! die Beine wären ihm schon vor fünf Jahr, durch einen andern Doktor, abgefahren worden. Hierauf bemerkte ein Arzt, der dem Geheimenrath zur Seite stand, daß sein linkes Auge geplatzt war; als man ihn jedoch fragte: ob ihn das Rad hier getroffen hätte? antwortete er: nein! das Auge hätte ihm ein Doktor bereits vor 14 Jahren ausgefahren.
Endlich, zum Erstaunen aller Anwesenden, fand sich, daß ihm die linke Rippenhälfte, in jämmerlicher Verstümmelung, ganz auf den Rücken gedreht war; als aber der Geheimerath ihn fragte: ob ihn des Doktors Wagen hier beschädigt hätte? antwortete er: nein! die Rippen wären ihm schon vor 7 Jahren durch einen Doktorwagen zusammengefahren worden. – Bis sich endlich zeigte, daß ihm durch die letztere Ueberfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war.
Der Berichterstatter hat den Mann selbst über diesen Vorfall vernommen, und selbst die Todtkranken, die in dem Saale auf den Betten herumlagen, mußten, über die spaßhafte und indolente Weise, wie er dies vorbrachte, lachen. – Uebrigens bessert er sich; und falls er sich vor den Doktoren, wenn er auf der Straße geht, in Acht nimmt, kann er noch lange leben.
HEINRICH VON KLEIST