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Archiv-Artikel

Verwundbare Tage

In dieser Familie nimmt man die Dramatik und die Tragik, wie sie kommt: Die Lyrikerin Nora Bossong hat ihren Debütroman geschrieben – „Gegend“

Man grillt Fleisch, aber niemand isst, man hört Trommeln, die niemand schlägt – seltsame Familie

VON ANNE KRAUME

Mit guten Bibelkenntnissen kommt man weiter. Nora Bossong hat ihrem ersten Roman „Gegend“ ein Zitat aus der Genesis vorangestellt, in dem von Lot die Rede ist. Der habe sich gefürchtet, in Zoar zu bleiben, und es vorgezogen, mit seinen beiden Töchtern in einer Höhle zu leben. Die Geschehnisse in Nora Bossongs Roman sind nicht leicht einzuordnen: Wer spricht hier, und wovon wird eigentlich erzählt? Mit guten Bibelkenntnissen kommt man weiter. Dann weiß man nämlich, dass Lot und seine beiden Töchter ganz allein nach der Vernichtung der Stadt Sodom übrig geblieben sind, dass sie deshalb zusammen im Gebirge leben und dass die Töchter schließlich ihren Vater betrunken machen, um dann mit ihm zu schlafen und Nachkommen zu zeugen.

Auch der Vater bei Nora Bossong hat zwei Töchter. Die handeln allerdings weniger einvernehmlich als die Töchter von Lot. Die Ich-Erzählerin kennt ihre Halbschwester Marie zu Beginn des Romans überhaupt nicht – mit dem gemeinsamen Vater reist sie zum ersten Mal in das namenlose südeuropäische Land, in dem Maries Mutter eine Pension betreibt. Der Vater hat nie Kontakt zu Marie und ihrer Mutter gehabt, und die Pension liegt in einer gottverlassenen Gegend. Beginnend mit der Ankunft des Vaters und seiner erzählenden Tochter in dieser Einöde, entwickelt sich eine Handlung, die fast wie ein Kammerspiel wirkt: Niemand verlässt im Verlauf dieses Stückes den engen Rahmen des Grundstücks, auf dem die Pension liegt – das Haus, der Obstgarten, der See, weiter nichts. Keine Ausflüge, fast keine Rückblicke, schon gar keine Einordnung in irgendwelche Zusammenhänge. Nur die dürren Fakten und das vorangestellte Bibelzitat.

Wenn „Gegend“ ein Familienroman ist, dann unterscheidet er sich mit seiner engen Perspektive und seinem knappen Rahmen von 130 Seiten sehr von der panoramahaft ausgebreiteten Fülle, durch die sich dieses Genre sonst auszeichnet. Wie in einer Versuchsanordnung unter dem Mikroskop entwickeln sich bei Nora Bossong die Prozesse innerhalb der zerstückelten Familie – und dass dabei vor allem lauter Merkwürdigkeiten zu beobachten sind, macht einen guten Teil der fremden Magie der Gegend und des Romans aus.

Da tönen beständig Trommeln rund um die Pension, aber niemand ist zu sehen, der sie schlägt. Da gibt es Zimmer mit Puppenköpfen und andere, die nicht betreten werden dürfen. Da sitzt man jeden Abend um ein Feuer und grillt Fleisch, und niemals isst jemand wirklich etwas. Da sehen sich Menschen ähnlich, die das gar nicht sollten, und Leute verschwinden, während andere unverhofft wieder auftauchen. Niemals werden viele Worte gemacht, niemand kommt irgendjemand anderem wirklich näher, und keiner scheint Interesse zu haben für die Dinge, die außerhalb seiner selbst stattfinden.

Nur die Ich-Erzählerin, die ihren Vater auf eine ungesunde Art und Weise liebt und fürchtet, ihn an die seltsame Gegend und an Marie zu verlieren, scheint bei all dem irgendwie betroffen zu sein: Sie taumelt seltsam unentschieden und dennoch verwundbar durch die Tage, ohne dass man wirklich wüsste, was in ihr vorgeht – sie wechselt, mal feindselig, mal lakonisch, ein paar Worte mit ihrer Halbschwester, sie lässt sich mit dem fremden Mann Jakob ein, der auch in der Pension lebt, und nachts träumt sie von sich auflösenden roten und blauen Fischen. Am Schluss ist sie die Einzige, die die Gegend verlässt, allein, ohne den Vater.

Nora Bossong hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert; sie hat vor diesem ersten Roman vor allem Gedichte geschrieben – und an vielen Stellen erkennt man auch in ihrer Prosa jetzt diese Konzentration auf das Wesentliche, zu der man als Lyriker gezwungen ist: Sehr knapp, sehr klar, sehr verdichtet ist das alles: „Im Haus war es fast so heiß wie draußen. Es wäre leicht gewesen, ins Auto zu steigen und mit dem Vater wieder nach Norden zu fahren, bis die kühle und verregnete Luft durchs Autofenster hineinwehte. Es kam mir unmöglich vor, dass etwas so leicht sein sollte.“

Trotz der sprachlichen Klarheit bleiben Nora Bossongs Figuren und ihre Beweggründe aber unscharf – es gibt fast keine Kausalitäten in dem Roman, ein Ereignis folgt auf das andere, ohne dass deutlich würde, ob es nun damit unmittelbar in Verbindung steht oder nicht. Keine Verwunderung, nicht bei der Erzählerin, nicht bei den anderen Personen, und mit fortschreitender Lektüre auch immer weniger beim Leser – man nimmt die Dinge, wie sie kommen, auch wenn man ahnt, dass sie von Dramatik und sogar Tragik sein könnten. Ein wenig erinnert der Ton, in dem Nora Bossong ihre abgründige Geschichte erzählt, an denjenigen des Alten Testaments: So wie dort die Geschichte von Lot und seinen Töchtern in ihrer bloß scheinbaren Logik unkommentiert präsentiert wird, ebenso lakonisch berichtet Bossongs Roman mit seiner sentimentalen und stilistischen Verknappung von dem namenlosen Vater und seinen Töchtern.

Nora Bossong: „Gegend“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006, 130 Seiten, 16,90 Euro