Lula muss kämpfen

Brasiliens Präsident hat bei den Wahlen vom Sonntag die absolute Mehrheit verfehlt und muss in die Stichwahl

„Lulas Strategie des Ausweichens hat nicht funktioniert. Er muss sich exponieren“

PORTO ALEGRE taz ■ Überraschend offen ist am Sonntag die erste Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen ausgegangen. Jetzt gilt: Nach der Wahl ist vor der Wahl. Nachdem Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei (PT) die absolute Mehrheit im ersten Anlauf verpasst hat, muss er am 29. Oktober in die Stichwahl. Und die ist noch lange nicht entschieden: Am Sonntag kam Brasiliens Präsident auf 48,6 Prozent der gültigen Stimmen, sein rechtsliberaler Rivale Geraldo Alckmin überraschend auf 41,6 Prozent. Lula siegte nur in 16 von 27 Bundesstaaten, vor allem im Norden und im Nordosten des Landes. Alckmin lag in seinem Heimatstaat São Paulo sowie im Mittelwesten und den wohlhabenderen Bundesstaaten des Südens klar vorn.

Deutlich wurde aber auch die soziale Spaltung Brasiliens: Die meisten Armen identifizieren sich mit dem charismatischen, aus einfachen Verhältnissen stammenden Präsidenten und halten ihm die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zugute. Seit 2002 ist der Anteil der in extremer Armut lebenden Brasilianer an der Gesamtbevölkerung von 26,8 auf 22,8 Prozent zurückgegangen. Die Mittel- und Oberschicht hingegen sieht ihre Interessen beim spröden Technokraten Alckmin besser aufgehoben.

Lula verlor vor allem bei der politisierteren Wählerschaft: Rund 20 Prozent seiner früheren WählerInnen, die in den letzten vier Jahren ihre Hoffnungen auf entschiedene Strukturreformen oder einen neuen Politikstil enttäuscht sahen, votierten jetzt für die Sozialistin Heloísa Helena (6,9 Prozent) oder Lulas früheren Erziehungsminister Cristovam Buarque (2,6 Prozent). Entscheidende Stimmen dürfte Lula auch die jüngste Affäre um den geplanten Kauf von belastenden Informationen gegen Oppositionspolitiker gekostet haben, bei der sich acht Funktionäre seiner Arbeiterpartei PT blamierten. Auch weiterhin wird Alckmin versuchen, mit dem Thema Korruption zu punkten.

Im Lager des Staatschefs setzt man plötzlich wieder auf Inhalte. Er wünsche nun eine „gründliche Debatte, um die brasilianische Gesellschaft zu politisieren«, gerade auch über die „ethische Frage“, sagte Lula im Fernsehen. Bislang war er den Medien und seinen Konkurrenten aus dem Weg gegangen. Der Politologe Geraldo Tadeu Moreira Monteiro meint denn auch: „Lulas bisherige Strategie des Ausweichens hat nicht funktioniert. Er muss sich exponieren und stärker an die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften appellieren“.

Den linken Rand will das Lula-Lager mit einer programmatischen Polarisierung zurückgewinnen: „Die Alternative ist die Rückkehr zu den Privatisierungen und zum Neoliberalismus“, sagte der PT-Abgeordnete Arlindo Chinaglia am Wahlabend.

Keine großen Verschiebungen gab es bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen. Die befürchtete Abstrafung der Arbeiterpartei blieb aus. Im Repräsentantenhaus konnte das Regierungslager seine knappe Mehrheit behaupten. Die PT erhielt erneut die meisten Stimmen, aufgrund des Wahlsystems wird sie diesmal mit 83 von 513 Abgeordneten aber nur zweistärkste Fraktion. Im Bundesstaat Bahia, bislang einer Hochburg der rückständigsten Rechten, stellt Lulas Partei sogar erstmals den Gouverneur. GERHARD DILGER

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