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Archiv-Artikel

All die blauen Augen

Schauspieler, die nicht weglaufen können, umsonst arbeiten und dafür auch noch dankbar sind: paradiesisch! Man muss nur an sie rankommen, denn ihre Bodyguards möchten sie am liebsten für sich alleine haben. Wer Theater im Gefängnis machen will, braucht mehr als Talent

von CORNELIA GELLRICH

„Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden.“ Die Matratze fliegt gegen die Wand. „Das Gefühl, Zeit und Raum sind ineinander verschachtelt.“ Das Mädchen fliegt gegen die Wand. Es heißt Kübra, ist siebzehn Jahre alt und wohnt derzeit in der Justizvollzugsanstalt Neukölln. Im dortigen Kultursaal ist ihre Wut auf einer Videoleinwand zu sehen, während sie live Ulrike Meinhofs Worte in ein Mikrofon spricht, ruhig und überlegt, im warmen Schein einer Laterne. Um die Leinwand herum stehen breitbeinig Frauen in blauen Overalls hinter blauen Ölfässern. Sie spielen für ihre Mitgefangenen, die sich zwischen Fässern, Scheinwerfern und Kamera in den kleinen Raum gequetscht haben, ihr neues Theaterstück „Der Untergang der MS Lichtenberg oder die Sehnsucht nach dem Horizont“. Es handelt von der Monotonie des Gefängnisalltags, wo selbst die Freizeit in den immer gleichen, minutiösen Zeitplan eingesperrt ist.

Schauspielernde Gefangene sind gar nicht so ungewöhnlich. Dass Theatermacher nicht nur ein Projekt mit Inhaftierten entwickeln, sondern langfristig mit ihnen arbeiten, schon eher. Umso bemerkenswerter ist die blühende Berliner Gefängnistheaterszene, bestehend aus zwei Gruppen: aufBruch e. V. arbeitet bereits seit Jahren mit inhaftierten Männern in Tegel. Sechs Wochen pro Projekt, sechs Tage die Woche, sechs Stunden den Tag. Es gibt viel zu wenig Arbeit dort, doch ausgerechnet die Darsteller von aufBruch e. V. sind in der Regel berufstätig. Sie haben also wirklich Stress während der Probenzeit. Aber eine 60-Stunden-Woche ist ihnen lieber als die Null-Stunden-Woche, die vielen anderen Gefangenen den letzten Nerv raubt. aufBruch e.V inszeniert meist bekannte Stücke, frisch aufbereitet, in denen es um Gewalt, Verbrechen, Freiheit und Gefangenschaft geht. Wie in fast jedem Theatertext. Sie mögen Heiner Müller, den „Horatier“ zum Beispiel. Die „Publikumsbeschimpfung“ von Peter Handke oder das „Endspiel“ von Beckett. Im Sommer haben sie die „Nibelungen“ als Freilufttheater auf dem Fußballplatz in Tegel gezeigt. Die externen Zuschauer saßen mit Sonnenbrille und Programmheft auf einer Tribüne, in dem rechteckigen Backsteinbau außenrum drückten Gefangene ihre Gesichter gegen Gitterstäbe. „Erst“, sagt Sybille Arndt, „quengeln die Darsteller meistens, sie möchten endlich mal was Lustiges machen.“ Aber dann fuchsen sie sich rein in die schweren Stoffe, richten sich in den komplexen Wortgebäuden ein.

Die Proben von aufBruch sind straff strukturiert: Wer dreimal fehlt, fliegt raus, Körper und Sprache werden trainiert. Anschließend formt Peter Atanassow aus den 20 bis 25 Darstellern einen Chor. Eine Stimme aus vielen Hälsen, einen Körper mit vielen Gliedern. Man könnte an Schleef denken dabei.

K&K VolkArt hingegen geht nicht mit fertigen Theaterstücken in den Knast, höchstens mit einem vagen Thema, einem großen Wort, wie Freiheit oder Warten. Aus den Improvisationen der Darstellerinnen entstehen Aufführungen, Szenencollagen, die so fragmentarisch sind wie das Leben der Schauspielerinnen selbst. Es geht darin um die Ängste, die Sehnsüchte der Frauen. Um ihre unerfreuliche Vergangenheit und harte Gegenwart. Um all die blauen Augen, die die einen den anderen schlagen.

K&K VolkArt arbeitet auch anders als die Kollegen aus Tegel. Erstens nur ein paar Stunden die Woche und zweitens chaotischer. Hier rauchen die Darstellerinnen bei Probenbeginn so lange quatschend, bis die Nervosität erstickt. Artur Albrecht redet, und die Frauen reden auch. Er lässt sich nicht unterbrechen, er gibt nicht auf. Er redet einfach weiter, in der Hoffnung, ein paar Satzhappen werden aufgeschnappt von der einen oder anderen. Ihm ist es lieber, wenn die Darstellerinnen machen, was sie wollen und nicht nur was er sagt. Das hat ihn am Stadttheater abgeschreckt, dieser meinungslose Gehorsam vieler Schauspieler dem Regisseur gegenüber. Das kann man sich im Knast abschminken. Wären die Insassinnen folgsam, wären sie nicht hier. Deswegen versucht K&K VolkArt auch erst gar nicht, Handwerk und Technik zu lehren. Weil sonst das Unmittelbare aus dem Spiel der Gefangenen verschwinden könnte, wie Artur Albrecht und Henriette Huppmann befürchten, und damit auch sein Reiz.

Tatsächlich berührt Gefängnistheater ungewöhnlich stark. Weil die Spielenden nicht hinter Rollen verschwinden können oder hinter gutem Licht und teuren Bühnenbildern. Weil die Ehrlichkeit, die in den dünnen Stimmen und hängenden Schultern liegt, schon fast zu Kommunikation zwingt. Und weil das, worüber hier Kunst gemacht wird, nämlich der Knast, die ganze Zeit über real anwesend ist. Das beginnt mit den Leibesvisitationen, denen sich die Zuschauer beim Betreten der JVA Tegel aussetzen müssen, mit all den Türen, die hinter ihnen ins Schloss fallen und dann auch wirklich zu sind. Mit den bleichen, entweder hageren oder fetten Körpern, die sie hinter vergitterten Fenstern, im Zuschauerraum und auf der Bühne sehen.

Bei den Aufführungen von aufBruch im Kultursaal der JVA Tegel steht auf der Bühne eine kleine Überwachungskabine. Ein Büro im Prinzip, mit Schreibtisch, Kaffeemaschine, Zeitung und natürlich Telefon. Eine Glasscheibe, durch die der uniformierte Beamte darin die Theater spielenden Gefangenen beobachten kann, aber auch die Zuschauer. Die Gefangenen sind zwar für die Außenwelt unsichtbar, wer aber drinnen ist, wird durchsichtig. Hier kuckt man nicht mal ungesehen Theater.

Das Gefängnis ist nicht der Ort, der einem für gewöhnlich als Erstes einfällt, denkt man an Theater. Das Sinnliche, Farbenfrohe, Opulente, mit dem das Theater verbündet zu sein scheint, fehlt im Knast. Trotzdem ist für Peter Atanassow das Gefängnis ein äußerst theaterfreundlicher Ort. Jede Biografie hier ist gebrochen, mindestens einmal, und im Bruch fängt die Geschichte, fängt das Theater an. In dem Moment, in dem jemand nicht mehr funktioniert, hinausfällt aus den Mustern und Rastern der großen Gemeinschaft, in dem er an sich, an den anderen zerbricht und zerbrechen lässt. Dann die Konzentration in dieser Eintönigkeit hinter Mauern. Die fehlt bei der Arbeit mit anderen Randgruppen. „Wenn ich mit Obdachlosen gearbeitet habe“, erzählt Attanassow, „dann hatten die immer noch ganz viele andere Projekte am laufen. Existenzielles wie Schlafplätze, Essen, Waschmöglichkeiten organisieren. Im Knast musst du dich um ziemlich wenig anderes kümmern.“ Menschliche Ressourcen also, die verschwendet werden im Gefängnis, nutzt das Theater. Denn die Dauerdisziplinierung, die Foucault in den Siebzigern noch im Gefängnis am Werke sah, findet heute höchstens noch bei den Theaterproben statt. Ansonsten ist sie der Apathie, dem Dahindämmern in Langeweile gewichen. Es gibt nichts zu tun. Körper liegen brach. Energien, die genutzt werden, um sich selbst zu vernichten, im Drogenrausch, im Aggressionsrausch, können umgelenkt werden, endlich aus dem Teufelskreis in der eigenen Zelle hinaus und auf die Bühne, in die Welt.

Eine elementare Kraft stürmt auf das Publikum ein, wenn die, die so viel zu sagen haben und keine Stimme seit Jahren, plötzlich reden können, sich zeigen, die im Nichts weggesperrten Körper sich ausdrücken können. Wenn einer sich so anstrengen muss, um in dieser fremden Sprache Deutsch mit seiner heiseren Stimme sich mitzuteilen, dann berührt das manchmal mehr als die Kunst glatter Profis. Man spürt den Kampf gegen sich selbst, gegen das eigene Unvermögen, den unbedingten Willen zur Mitteilung.

Kaum jemand aus den Ensembles von aufBruch e.V. und K&K VolkArt hatte vor Haftantritt bereits Theater gespielt. Aber im Gefängnis sind die Unruhigen dankbar für jede Unterhaltung, für jeden Termin, der vom Warten auf das Ende der Haft ablenkt.

Alle Beteiligten hoffen, das Theater könnte die starren Hierarchien und Rollenmuster des Knastalltags aufweichen, könnte gemeinschafts- und konfliktfähig machen, könnte Selbstzweifeln und Einsamkeit entgegenwirken. Vollzugsbeamte vermuten, Theater sei außerdem Teil dessen, was sie Resozialisierung nennen, helfe also, die Inhaftierten gesellschaftskompatibel, ihr Verhalten normkonform zu machen. Belegen lässt sich das nicht. Für die Justiz ist Theater hinter Gittern ein brauchbares Aushängeschild, zeigen die Eingesperrten auf der Bühne doch, wie gut gebändigt sie inzwischen sind und wie kreativ und abwechslungsreich sich ihr Leben im Gefängnis gestaltet.

Für die Zuschauer ist es die Nötigung zu einem emotionalen Erleben, das ihnen das Theater nicht gerade oft abverlangt, und der Zwang, Anderes, Ausgestoßenes wahrzunehmen, einzudringen ins Innere dieses äußersten Zipfels der sozialen Peripherie.

CORNELIA GELLRICH, 26, hat Theaterwissenschaft studiert und lebt als Autorin in Berlin