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Archiv-Artikel

„Das größte Problem ist die Ungerechtigkeit“

Viele Linke führen Scheingefechte im Namen der Rationalität, meint der britische Kulturtheoretiker Terry Eagleton. Dabei könne Religion auch Motor sein für eine Kritik des Kapitalismus – und Sozialismus das Gegenmittel zum Terror

taz: Herr Eagleton, als Theoretiker der britischen Linken beschäftigen Sie sich wieder mit Religion, dabei war das Thema doch schon für Marx erledigt. Warum also?

Terry Eagleton: Nun, Marx hat zu Recht eine wachsende Säkularisierung erkannt, die er als Reaktion auf die Industrialisierung verstand. Er wollte die Religion entmystifizieren, schließlich ändert sich mit dem Unterbau auch der Überbau.

Gleichwohl sah Marx aber auch die Globalisierung des Kapitalismus voraus, auf die das Wiederaufleben von Religionen eine Reaktion ist – so wie ja Fundamentalismus überhaupt von einer tiefen Angst vor sich auflösenden Identitäten genährt wird.

Aber das erklärt noch nicht, wieso sich Marx so geirrt hat?

Marx hat vielleicht nicht die Reaktion auf die heutigen Verhältnisse vorhergesehen, aber er wusste um das Problem. Nehmen Sie nur den oft zitierten Satz von der Religion als Opium fürs Volk. Bei Marx heißt es im Text wenig später zur Religion, dass sie das Herz einer herzlosen Welt, die Seele einer seelenlosen Gesellschaft sei. Deshalb verkörpert Religion für Marx ähnlich wie die Kunst jene Werte, die der Kapitalismus vernichtet.

In Ihrem Buch „Holy Terror“ führen Sie diese Überlegungen ausschließlich entlang der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte fort.

Man darf nicht vergessen, dass die jüdisch-christliche Tradition nicht im Westen begonnen hat. Jesus kam aus einem Dritte-Welt-Land, zumal aus einer Kolonie des Römischen Reichs. Am Anfang war das Christentum die Religion der Armen und Exilierten.

Hätten Sie denn nicht auch zumindest den Koran mit einbeziehen müssen?

Mir geht es nicht allein um Religion als Abbild eines Fundamentalismus islamischer Prägung. Vielmehr beschäftigt mich, warum sich auf Seiten einer Linken inzwischen eben auch radikaltheologische Positionen finden. Das reicht von Slavoj Žižek über Giorgio Agamben bis hin zu Alain Badiou oder meiner eigenen Arbeit.

Es liegt schon einige Ironie darin, dass Religion sich einerseits zu einer der reaktionärsten Herrschaftsformen in der Welt entwickelt hat und gleichzeitig noch immer über Texte mit enormer Sprengkraft verfügt. Mehr noch, ich sehe Religion durchaus als Motor für eine materialistische Kritik, die mehr und mehr an den Rand gedrängt wird. Aber ein Großteil der Linken führt weiter Scheingefechte im Namen der Rationalität, obwohl sie gerade jetzt politische Diskurse an die Religion knüpfen könnte.

Zugleich leiten Sie den Terror kulturgeschichtlich her. Ist Ideologiekritik vorbei?

Ich habe ganz einfach einen anderen Zugang gesucht – steht nicht schon im Alten Testament, dass Gott derjenige ist, der die Macht besitzt und deshalb Terror ausüben kann? Mich ärgert es, dass viele Kritiker der Religion sich nicht einmal die Mühe machen, genauer zu lesen.

Wie können Sie sich denn erklären, dass junge Leute, die aus der Mitte der Gesellschaft stammen, aus falsch verstandenem religiösen Eifer zu Terroristen werden?

Nach einer neueren britischen Studie handeln viele der jungen Radikalislamisten nicht aus religiösen Motiven, sondern rein politisch. Sie wachsen mitten unter uns auf, sie erkennen dass etwas schiefläuft und sie reagieren. Auch die Selbstmordattentäter handeln aus ihrer Feindseligkeit gegenüber dem Westen und nicht mit dem Koran in der Hand.

Ist da nicht auch eine entschiedenere Integrationspolitik gefragt?

Ich halte es für einen Backlash, wenn jetzt der Multikulturalismus als gescheitert erklärt wird. Aber das ist zu allen Zeiten von Politikern behauptet worden. Worauf läuft es denn bei der Integrationsdebatte hinaus? Dass sich Menschen unseren Vorstellungen anpassen, dass sie sich verhalten, wie wir es auch tun. Aber wer entscheidet über diese Regeln? Offenbar nicht diejenigen, deren Integration hierzulande verhandelt wird.

Meiner Meinung nach besteht der Widerspruch darin, einerseits Menschen kulturell miteinander ins Gespräch zu bringen, während sie politisch weiter und weiter auseinanderdividiert werden. Der Westen schafft ökonomische Verhältnisse, die Menschen in anderen Ländern zu Emigration und Flucht zwingt, aber zu Hause will er es gemütlich haben. Wenn der Terrorismus eines geschafft hat, dann doch, dass diese Scheinheiligkeit und Heuchelei offen sichtbar geworden ist. Stattdessen werden nun ganze Regionen schlichtweg respektiert, wenn es nur dem häuslichen Frieden dient.

Ist die Rückkehr zur Religion auch der Versuch, sich in postideologischen Zeiten zu positionieren?

Ich schreibe in meinem Buch nicht von ungefähr über Fundamentalisten – von Texas bis zu den Taliban. Beide Seiten werden von der Angst geleitet, dass ihnen die moderne Welt des globalisierten Kapitalismus all jene Werte wegnehmen könnte, auf denen ihr Leben aufgebaut ist.

In diesem Sinne sehen Sie dort eine Seelenverwandtschaft, wo andere vom „Clash der Kulturen“ reden?

Auf jeden Fall. Es gibt unerwartete Parallelen, zumal beide Seiten ja eine altehrwürdige Kultur aufrechterhalten wollen, zur Not eben mit barbarischen Mitteln. Damit unterlaufen sie dann allerdings die tatsächlichen Grundlagen und Werte von Zivilisation. Der Hass, den man auf den Islam schürt, gibt auch dessen flammenden Vertretern neue Nahrung.

Wir dürfen dieser Spirale der Gewalt nicht weiter zusehen, sonst hat man irgendwann eine Gesellschaft der Angst, die Menschen in afghanische Höhlen oder eben in christliche Milizencamps in den Bergen von Montana treibt. Tony Blair und die CIA wissen noch immer nicht, wie sie mit den Monstern umgehen sollen, die sie selbst geschaffen haben. Wo es an einem verbindlichen Recht fehlt, da wachsen Extremismus und Gewalttätigkeit.

Also wollen Sie eine Art Weltgericht?

Das größte Problem ist die Ungerechtigkeit: Sie treibt Menschen zu Verzweiflungstaten. Mir geht es nicht um den konkreten Korpus einer Gerichtsbarkeit, sondern um ein größeres Bewusstsein dafür, wie man gerechter verfährt. Denken Sie doch nur an den Irakkrieg: Man muss den Druck verringern, der mit jeder Ungerechtigkeit wächst.

Dafür haben Sie auch schon ein Modell parat: Sozialismus als Gegenmittel zum Terrorismus. Hätte es unter sozialistischen Bedingungen keine heiligen Krieger gegeben?

Ja, das sehe ich so. Marx war der Erste, der das Dilemma theoretisch erkannt und eine antikoloniale Haltung eingenommen hatte. Wenn die Frage des Kolonialismus nicht nationalistisch diskutiert worden wäre, sondern unter dem Vorzeichen des Sozialismus, dann hätte man heute eine sehr andere Situation.

Die Rückschläge, die der Sozialismus erlebt hat, haben dem Kapitalismus zu noch wilderem Wuchern verholfen, was den Sozialismus wiederum noch stärker verwüstete. Diese Wechselwirkung war verheerend, sie hatte aber eben auch Konsequenzen, wenn man etwa die antikoloniale Tradition des Sozialismus bedenkt. Aber ich bin optimistisch, dass es da eine Rückbesinnung geben wird.

INTERVIEW: HARALD FRICKE