piwik no script img

Archiv-Artikel

Von Musik umzingelt, vom Drama erfasst

Die als unspielbar geltende Oper „Die Soldaten“ wird in der Bochumer Jahrhunderthalle grandios umgesetzt. Die brachialen Szenen spielen auf einem 120 Meter langen Catwalk, die ZuschauerInnen fahren mitten durch das monumentale Orchester. Ein absoluter Glücksfall für die Triennale

VON REGINE MÜLLER

Vor mehr als vierzig Jahren sprach der Komponist Bernd Alois Zimmermann über sein Opus Maximum „Die Soldaten“ ein Rätselwort: er raunte von der „Kugelgestalt der Zeit“ und verfügte ferner, sein epochales Musiktheater spiele „gestern, heute und morgen“. Nicht zuletzt diese visionären Ansprüche brachten dem unter großen Mühen und Krächen in Köln schließlich doch zur Uraufführung gebrachten Werk das Etikett „unspielbar“ ein. In der Bochumer Jahrhunderthalle scheint Zimmermanns Oper nun auf verblüffende Weise zu sich selbst gekommen zu sein, und vieles spricht dafür, dass dies vielleicht zum ersten Mal überhaupt gelang. Mit der Logik des Albtraums wird in der riesigen Halle die „Kugelgestalt der Zeit“, die Simultaneität der Handlung einfach wie ein Teppich ausgerollt. 120 Meter lang und vier Meter breit ist die Spielfläche, die wie ein Catwalk die Halle durchmisst und zugleich zur Zeitachse wird: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind tatsächlich gleichzeitig zu erfassen. Das nicht Gegenwärtige gefriert zur Scherenschnitt-Silhouette in der Ferne, mal als Erinnerung, mal als Zukunftsprojektion.

Den Wechsel der Perspektiven aber erfährt man buchstäblich: das zu beiden Seiten des Stegs und auf einer ansteigenden Bühne platzierte Publikum wird mithilfe einer geräuschlos arbeitenden Hydraulik auf Schienen an der Bühne entlanggefahren, vor und zurück, und durch das monumentale Orchester mitten hindurch. 900 Menschen werden so in unmerklicher, manchmal Schwindel erregender Bewegung gehalten, denn nicht immer ist man sicher, was sich nun bewegt, die Bühne, das Orchester oder der Raum selbst?

Regisseur David Pountney, der als Intendant der Bregenzer Festspiele erfahren ist mit monströsen Raummaßen, findet mit dieser spektakulären Bühnenlösung nicht nur aufregende und schlüssige Bilder für Zimmermanns vertracktes Simultantheater, er nimmt von der Jahrhunderthalle erstmals regelrecht Besitz. Wirkten viele der Triennale-Produktionen doch immer wie von einer Bühne herab in die Hallen herein gesetzt, ist diesmal die Halle in ihrer brutalen Monumentalität, mit dem einsamen, eiskalt beleuchteten Kathedralenfenster der einzig mögliche Ort für diese Inszenierung.

Pountneys Regie leistet sich ansonsten keine großen Sprünge, führt die Personen sorgfältig und genau, mit Sinn fürs Detail, einem Hang zu ironischer Distanz und einer Abneigung gegen allzu schmerzhafte Zuspitzung. So nimmt die Tragödie nach Jakob Michael Reinhold Lenz‘ „Sturm und Drang“ -Drama um die unbescholtene Tochter eines Galanteriehändlers zunächst fast beiläufig seinen Lauf. Die bereits mit dem Tuchhändler Stolzius verlobte Marie wird vom Offizier Desportes verführt, fallengelassen und damit dem Untergang preisgegeben. Von Soldaten vergewaltigt und vom Vater nicht mehr erkannt endet die Geschändete als Bettlerin. All das erlebt das Publikum mal in großer räumlicher Distanz, dann wieder in an Voyeurismus grenzender Nähe.

Pountney belässt es bei diesem Wechselbad und beschwert Zimmermanns hohen Ton nicht durch zusätzlich vertiefende Kritik an den Machtverhältnissen. Trotz aller Drastik bleibt Pountney auf Distanz und befindet sich damit im Einklang mit Steven Sloane, der am Pult der Orchesterhundertschaften nicht eine Sekunde die Übersicht verliert. Allein 28 Orchesterproben waren nötig, das Gewimmel zu ordnen und ein Wunder an Präzision und Transparenz zu erreichen. Ungeheuer farbig und expressiv entfaltet sich Zimmermanns Zwölfton-Kosmos zu einem sogartigen Raumklang, der alles umschließt. Man ist geradezu umzingelt von Musik, die ständig ihren Ort zu wechseln scheint und sich in einem Finale von nie geahnter Grausamkeit entlädt. Doch Sloane drückt niemals nach, er dirigiert nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern organisiert und entfesselt dann.

Ein Wunder an Intensität auch die wunderbare Sängerschar, die bis in die kleinsten Partien groß und souverän besetzt ist. Allen voran begeisterte die sich gleichsam entäußernde „Marie“ der Claudia Barainsky. Ein überwältigender Abend und ein Glücksfall für die Triennale, die mit dieser letzten und bislang größten Produktion eine ziemlich durchwachsene Spielzeit dann doch noch triumphal beendet.

19:30 Uhr, Jahrhunderthalle, BochumInfos: 0201-8872024