Das Gewissen ist tot

Unerschrocken, unbequem, unbestechlich: Warum die Journalistin Anna Politkowskaja ermordet wurde

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Wie so oft hatte Anna Politkowskaja auch diesmal den Terminplan kurzfristig ändern müssen. Wann immer sich ein Besucher aus Tschetschenien meldete, genoss dieser Vorrang. Nicht kaukasische Gastfreundschaft sei der Grund, eher die bittere Erfahrung eines gnadenlosen Krieges: Später könnte zu spät sein. Und wer sich zu ihr nach Moskau durchgeschlagen habe, der müsse ja etwas auf dem Herzen haben, meinte die Journalistin. Seit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 widmete die 48-jährige Reporterin der Nowaja Gaseta Leben und Arbeit nur einem Ziel: die Gräueltaten aller Kriegsparteien im Kaukasus aufzudecken und die russische Gesellschaft wachzurütteln. Sie warnte früh davor, dass der Krieg sich auf den gesamten Nordkaukasus auszuweiten drohe. Vor allem beunruhigte sie aber eins: Der Feldzug würde auch eine Verrohung der gesamten russischen Gesellschaft nach sich ziehen. Am Sonnabend wurde Anna Politkowskaja im Alter von 48 Jahren im Fahrstuhl ihres Wohnhauses im Moskauer Stadtzentrum durch mehrere Kopfschüsse aus einer Makarow-Pistole niedergestreckt. Die Ermittlungsbehörden wollen ein Video mit Bildern von dem Täter bereits sichergestellt haben. Sie gehen aber davon aus, dass der anscheinend unprofessionelle Mörder von den Auftraggebern schon beseitigt wurde. Politkowskaja war eine einsame Stimme in Russland, Menschenrechtler nennen sie das Gewissen der Nation.

Von 1999 bis zum Geiseldrama in Beslan vor zwei Jahren fuhr sie einmal im Monat in die Kriegsregion. Das Material, das sie sammelte, war das Gegenteil dessen, was der Kreml alle Welt glauben machen will: dass die Armee im Kaukasus einen gerechten Krieg gegen islamistische Fundamentalisten führe, die „verfassungsrechtliche Ordnung“ wiederherstelle und alles unternehme, um den Menschen ein normales Leben zu ermöglichen. Stattdessen förderte die Journalistin zutage, wie eine Armee Jungen, Männer und Witwen aus Rache in die Arme der Guerilla treibt.

Seit 2004 fuhr sie nicht mehr nach Tschetschenien. Moskau hatte in der Region einen Stabilisierungskurs ausgerufen und mit Ramsan Kadyrow einen treuen Vasallen in Grosny installiert. Dessen Todesschwadronen verbreiteten Terror und Schrecken unter der Zivilbevölkerung. Auch Politkowskaja erhielt unverhüllte Morddrohungen. Zum ersten Mal hörte sie auf den Rat des Chefredakteurs der Nowaja Gaseta und blieb zu Hause. Das sah der Frau nicht ähnlich, die weder mit Ruhm noch mit Todesverachtung kokettierte. Waren die Verhältnisse vorher in Tschetschenien gefährlich, weil unübersichtlich, kam jetzt eine neue Dimension hinzu: Die vom Kreml eingesetzte Macht erhielt freie Hand, um mit allen Mitteln in der Republik äußerlich für Ruhe zu sorgen.

Die Geiselnahme in Beslan 2004 war jedoch noch eine weitere Zäsur. Der Tschetschenienkrieg griff auf den Nordkaukasus über. Davor hatte sie gewarnt. Auf dem Flug nach Beslan wurde die Reporterin Opfer eines Giftanschlags. Aus Beslan wollte sie nicht nur berichten, sie hatte auch gehofft, die Terroristen zum Aufgeben bewegen zu können.

Das hatte sie auch bei der Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater Nord-Ost im Herbst 2002 versucht und sich als Geisel angeboten. Die russischen Sicherheitsorgane ließen sie indes nicht vor. Über das Drama, bei dem nach dem Befreiungsschlag der Sicherheitsorgane mehr als 130 Menschen an Gasvergiftungen starben, berichtete sie in dem Buch „In Putins Russland“. Wie die beiden vorangegangenen Tschetschenienbücher wurde auch dieses in Russland nicht mehr veröffentlicht. Die Verleger fürchteten Repressalien der Staatsapparate. In dem Buch beschreibt sie, wie eine Mutter der Ursache des Todes ihres Sohnes nachforscht. Er hatte eine Schusswunde in der Stirn, war nicht am Gas, sondern durch die Hand der Retter gestorben. Die Ermittler zwangen die Mutter unter Androhung von harter Strafe, die Aussagen zurückzuziehen.

Politkowskaja wurde als Kind sowjetischer Diplomaten ukrainischer Herkunft in New York geboren. Sie besaß eiserne Selbstkontrolle, war unerschrocken, erschien fast übermenschlich. So ist auch ihr Stil, emotionslos, erschütternd. Wenn sie erzählte, filterte sie aus ihren Erlebnissen die Dramatik. Politkowskaja war keine analytische Journalistin, sie beschrieb einfach das Grauen. In „Putins Russland“ ging sie indes weiter, sezierte die moralische Degradierung und Verrohung der Gesellschaft, porträtierte eine Geschäftsfrau, die ihren nutzlosen Ehemann abservierte, sich in die Moskauer Duma hatte wählen lassen, um so eine Stufe der Korruption zu überspringen. Anders komme man zu nichts … „Offensichtlich sind wir in den letzten Jahren sehr verroht, vielleicht sogar unehrenhaft geworden“, meinte sie. Was könne man von einer Gesellschaft erwarten, in der Mord und Raub auf der Tagesordnung stünden.

Im Unterschied zu den wenigen verbliebenen kritischen Intellektuellen in Russland suchte Politkowskaja nicht nach fernen Schuldigen: „Gerichte verdammen Verbrechen nicht, die Gesellschaft handelt aber genau so.“ Was früher einmal Abscheu hervorrief, werde mittlerweile einfach akzeptiert. Nicht Wladimir Putin sei der Übeltäter, er sei nur ein aus dem Abseits agierender „Vorläufer eines nationalen Zynismus“. „Wir allein zuallererst sind verantwortlich für Putins Politik, nicht Putin.“ Die Gesellschaft habe die zynischen Manipulationen der russischen Politik einfach achselzuckend hingenommen und sich höchstens noch in der Küche abfällig darüber geäußert. Seit Putins Präsidentschaft erliege Russland einem Harmoniebedürfnis und verschließe die Augen, während die Intelligenz sich einer freiwilligen Selbstzensur unterwerfe.

Sie kämpfte nicht nur gegen Militärs und Geheimdienst an der unsichtbaren Front. Auch zu Hause musste sie sich gegen Anfeindungen und Verleumdungen als „Westagentin“ häufig zur Wehr setzen. Wer sich für kaukasische Minderheiten einsetzt, macht sich unbeliebt, verdächtig sogar. Was trieb sie, trotz der ständigen Bedrohungen weiterzumachen ? „Vor dem Leid darf ich keine Schwäche zeigen“, sagte sie leise.

In der heutigen Nowaja Gaseta sollte ein Artikel über Folter in Tschetschenien erscheinen. Beweismaterial und Artikel sind verschwunden, teilte die Zeitung mit.