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Archiv-Artikel

Warst du damals auch dabei?

Vor 25 Jahren fand im Bonner Hofgarten die erste Großkundgebung der westdeutschen Friedensbewegung statt. 300.000 Menschen demonstrierten gegen die Stationierung neuer Atomraketen in Europa. Der Historiker Jens Korff wollte nun wissen, ob es sich gelohnt hat. Eine Generation zieht Bilanz

WARST DU AUCH DABEI?

Konrad K. (geb. 3. 7. 1960 in Aachen, 1981 in Aachen, Werbetexter in Bielefeld): Ja, ich erinnere mich an die von Menschen überfüllte Poppelsdorfer Allee und wie sich der gesamte Luftraum über den Menschen mit Hannes Waders Stimme füllte, der dort sang: „Es ist an der Zeit“. Spätestens abends beim Fernsehen hatte ich das deutliche Gefühl, ein historisches Ereignis mitgestaltet zu haben. Schließlich hatte ich in Aachen mit für die Demo geworben.

Udo H. (geb. 11. 11. 1952 in Calw, Pädagoge und Unternehmer in Köln): Ich sah das Engagement in der Friedensbewegung nie unabhängig von anderen politischen Engagements. Aktiv war ich in der Antiapartheidbewegung, in der Solidaritätsarbeit für Nicaragua und „Waffen für El Salvador“ – nicht trotz, sondern gerade auch wegen des friedenspolitischen Ziels.

Friederike D. (geb. 19. 8. 1955 in Düsseldorf, 1981 in Aachen, Informatikdozentin in Middlesex, Großbritannien): Ja, ich war damals dabei im Bonner Hofgarten oder zumindest auf dem Weg dahin, denn der Hofgarten war voll, und wir haben nur den entfernten Widerhall der Reden und der Musik im Hofgarten wahrnehmen können. Oder war das die zweite Bonner Hofgarten-Demonstration? Ich werde alt, und die Erinnerungen verblassen ein wenig. Ich habe noch immer the Langspielplatte der Bots, die ich dort zum ersten Mal gehört habe. Später habe ich alle Lieder auf Niederländisch auswendig gekonnt. Ich erinnere mich gerne. Aber das Gefühl, an einem historischen Ereignis teilgenommen zu haben, stellte sich erst viel später ein.

Nikolaus B. (geb. 1964 in Ludwigsburg, Journalist in Bielefeld): Nein, ich war nicht dabei. Ich war damals 17 Jahre alt, habe noch am Zweiten Weltkrieg rumgebastelt, d. h. an Plastikmodellen von deutschen Jagdflugzeugen und Kriegsschiffen. Zugleich habe ich täglich die Nato-Streitkräfte beim Üben gesehen und das als ebenso faszinierend wie bedrohlich empfunden. Die Nachrüstungsdebatte hab ich nur am Bildschirm verfolgt. In der Familie waren wir gegen die Stationierung von neuen Massenvernichtungswaffen.

ERZÄHLST DU VON FRÜHER?

Franz S. (geb. am 21. 6. 55 in Beckum, Westfalen, 1981 in Aachen, Softwarehändler in Brüggen): Klar habe ich meiner Pflegetochter davon erzählt. Nichten und Neffen sehe ich zu selten.

Susanne R. (geb. 18. 12. 1962, 1981 in Dortmund, Sonderschullehrerin in Bielefeld): Nein, ich habe bis jetzt meiner Tochter noch nichts von meiner politischen Arbeit gegen die Stationierung der Raketen erzählt. Häufiger war die Rede von Aktivitäten in der Frauenbewegung und dem politischen Kampf um viele Errungenschaften, die meiner Tochter heute als normal erscheinen.

Siegmund M. (geb. 15. 5. 1953 in Bielefeld, 1981 in Bielefeld, Gesamtschullehrer in Bielefeld): Mein jüngstes Kind ist zwei Jahre nach Tschernobyl geboren und in einem anderen sozialen und politischen Umfeld aufgewachsen. Mit ihm war ich zufällig vor zwei Jahren in Bonn und erzählte von der Demonstration, dem stundenlangen Laufen von der Autobahn in die Innenstadt. Das war ihm so fern, dass es kaum Fragen stellte.

Dominik B. (geb. 30. 8. 1952 in Bielefeld, 1981 bei Bielefeld, Pädagoge in Bielefeld): In meiner persönlichen Biografie spielte die Anti-AKW-Bewegung eine wesentlich bestimmendere Rolle, davon habe ich schon manchmal was meiner Tochter erzählt – meistens dann, wenn wir über ihre eigenen Erfahrungen sprechen, die sie mit 14, 15 Jahren gemacht hat. Die Friedensbewegung war mir zu ostlastig, im Sinne von einseitig. Die „atomare Gefährdung“ war mobilisierende Demagogie, was nichts daran ändert, dass es sinnvoll war, an der Aufrüstung zu knabbern.

Volker H. (geb. 9. 9. 1956 in Köln, 1981 in Köln, Verwaltungsbeamter in Köln): Die völlig unpolitischen Abkömmlinge in der weiteren Familie würde ich mit solchen Geschichten nur zum Gähnen bringen. Zum Beispiel, wie ich zusammen mit ein paar anderen Jusos vor dem Atombunker unter der Kalker Post stand, ausgestattet mit Gasmaske, Fackel und einem Plakat „Kampf dem Atomtod“. Oder wie ich den aus heutiger Sicht etwas bizarren Antrag, den Stadtbezirk Köln-Kalk zur „atomwaffenfreien Zone“ zu erklären, in die Bezirksvertretung einbrachte.

WORAUF BIST DU STOLZ?

Dominik B.: Wie käme ich dazu?

Konrad K.: Darauf, dass ich etliche Flugblätter für Abrüstung geschrieben habe, darunter eines mit der Überschrift „An alle, die Gorbatschow nicht glauben“. Darin habe ich Gorbatschows Abrüstungsvorschläge von 1985 kurz erklärt. Kanzler Kohl war ja damals noch der Meinung, Gorbatschow sei ein neuer Goebbels.

Lutz H. (geb. 9. 8. 1952 in Aachen, 1981 in Aachen, Angestellter in Aachen): Ich habe das mitorganisiert.

Udo H.: Dabei gewesen zu sein, nicht einfach mitgeschwommen zu sein, das eigene Denken nicht ausgeschaltet zu haben. Ich war nie prinzipiell Pazifist, weil ich nie aus den Augen verloren habe, dass Gewalt manchmal unumgänglich ist.

Susanne R.: Ich bin sehr stolz, in zweierlei Hinsicht. Einmal darauf, dass die Friedensbewegung es damals wirklich geschafft hat, etwas für die Abrüstung auf dieser Welt zu erreichen. Eine Volksbewegung! Eine Masse von Menschen mit der „gleichen“ Idee („Frieden schaffen ohne Waffen“) kann etwas politisch bewegen! Andererseits bin ich auch auf mich persönlich „stolz“ – in Anführungszeichen, ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist. Jedenfalls froh, etwas von meinen Überzeugungen in die Tat umgesetzt zu haben. Aktiv geworden zu sein, mit dem Gefühl, „unserer Welt“ zu gestalten.

Franz S.: Selbst mein Vater, der es stets mit Reinhard Meys „Bevor ich mit den Wölfen heule“ hatte, fuhr mit meiner Mutter nach Bonn.

Volker H.: Nein, ich bin nur erstaunt, wie unermüdlich aktiv wir damals waren. Da bin ich heute viel ruhebedürftiger. Außerdem ist mir an der Friedensbewegung aus heutiger Sicht manches suspekt. Viel lieber erzähle ich von der guten alten Anti-AKW-Bewegung und unseren Demos in Kalkar und anderswo. Da stehe ich auch heute noch ungeteilt dazu, weil wir uns dem militärisch-industriellen Komplex und dem Einstieg in die Plutoniumwirtschaft ein Stück weit in den Weg gestellt haben. Die Anti-AKW- Bewegung war meines Erachtens um einiges politischer als die Friedensbewegung.

WESSEN SCHÄMST DU DICH?

Konrad K.: Nein. Gut, im Rückblick erscheint unsere Angst, Europa könnte in einem „begrenzten Atomkrieg“ verheizt werden, etwas übertrieben.

Siegmund M.: Scham? Nein!

Bernd S. (geb. 1957, 1981 in Aachen, Arzt in Aachen): Eine gewisse Scham verspüre ich im Nachhinein über die ungeheure Selbstgerechtigkeit, die wir damals an den Tag legten. Wir hatten mit Marx und Engels die Weisheit mit Löffeln gefressen und konnten andere Standpunkte nur milde belächeln.

Lutz H.: Wir hatten etwas naive Vorstellungen von der Rolle der SPD und auch der Grünen, wie der Überfall auf Jugoslawien zeigt. Auch die nationalistischen Tendenzen in mancher Veröffentlichung aus der Friedensbewegung, vor allem die Supermacht-„Theorie“, haben Schaden angerichtet.

Volker H.: In gewisser Weise ja. Wir waren etwas neurotisch und wähnten uns am Vorabend eines Atomkrieges. Dabei dürften aus heutiger Sicht die 80er-Jahre relativ sicher gewesen sein. USA und Sowjetunion wurden von zweckrationalistischen Apparaten regiert, was ich bei den heutigen Kontrahenten, den USA z. B., Iran oder auch Nordkorea, bezweifeln würde. Auch die Regierung der USA scheint nicht mehr in dem Maße von Zweckrationalität geleitet zu sein wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Etwas schäme ich mich auch, weil ich nicht erkannt habe, dass die Friedensbewegung so massenwirksam war, weil sie im Kern nationalistisch war. Deutschland sollte nicht zum atomaren Schlachtfeld werden. Das war populär. Natürlich ist es legitim, sein eigenes Fell retten zu wollen. Es gibt aber keinen Anlass, sich etwas darauf einzubilden. Beim Überfall auf Exjugoslawien unter deutscher Beteiligung hat man dann gesehen, was die Friedensbewegung noch wert war – nicht viel.

Friederike D.: No regrets, get on with life!

Franz S.: Ich bereue nichts!

Susanne R.: Ja, es gab etwas Überhebliches an mir, nach dem Motto: „Ich weiß, wo es langgeht, und vor allem auch, wie.“ Ich glaube, ich habe mich nicht immer auf eine Stufe mit den anderen gestellt, sondern etwas höher.

HAT ES SICH GELOHNT?

Franz S.: Ich glaube, die Autoritätshörigkeit hat nachgelassen. Dennoch: Wer hätte damals geahnt, dass die ersten (grundgesetzwidrigen) Auslandseinsätze von einer rot-grünen Koalition beschlossen werden? Ich!

Susanne R.: Es ist abgerüstet worden. Leider gibt es wieder einen anderen Trend in Deutschland: Jährlich werden 900 Millionen Euro für Auslandseinsätze ausgegeben.

Siegmund M.: Nicht verändert, aber ohne sie wäre es heute vermutlich noch schlimmer.

Dominik B.: Ich glaube, das wäre etwas vermessen; aber wer weiß – vielleicht hat doch die damalige Beschäftigung auch langfristig die Ablehnung des Irakkrieges mitverursacht. Schließlich sind wir doch wohl allzu selten in der Geschichte eine friedliebende Nation gewesen.

Nikolaus B.: Vielleicht ist es ein Verdienst jener Bewegung, dass im Verlauf der Achtzigerjahre breite Teile der Bevölkerung politischer wurden, sich nicht nur als Privatleute begriffen, sondern als Teil der Gesellschaft, im Sinne von „Nur wählen gehen, reicht nicht, ich muss auch selbst was tun“. Außerdem ist unter jungen Männern damals die Diskussion um das Wehrdienstverweigern so richtig aufgeflammt. Mann war gezwungen, Stellung zu beziehen.

Helmut F.: Sie hat nicht die Welt verändert, aber für eine Phase das politische Klima. Und das war nicht ganz ohne Wirkung auch auf die Entwicklung der großen Politik.

Bernd S.: Die Friedensbewegung hat wenig verändert. Die Abrüstung kam letztlich dadurch zustande, dass die Sowjetunion pleite war.

Lutz H.: Wegen unserer Schwäche ist die Sowjetunion zusammengebrochen. Die Aufrüstungsspirale des „freien Westens“ konnte nicht gestoppt werden.

Volker H.: Ich meine nicht, dass die Welt friedlicher geworden ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die von vielen Friedensfreundinnen und Freunden erwartete Friedensdividende ausgeblieben. Dafür hat die Anzahl der tötungsintensiven Konflikte zugenommen. Schöner ist die Welt jedenfalls nicht geworden.