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Archiv-Artikel

Doktor Seltsams Geist ist aus der Flasche

Liebhaber nuklearer Abschreckung in aller Welt werden sich an Pjöngjang ein Beispiel nehmen

Der 9. Oktober – der Tag, an dem der Atomwaffensperrvertrag endgültig scheiterte?

GENF ■ taz Der atomare Geist ist nach Nordkoreas gestriger Testexplosion endgültig aus der Flasche. Und die Chancen, ihn wieder einzufangen und die Flasche zu verschließen, sind noch geringer geworden. Möglicherweise wird der 9. Oktober 2006 einmal in die Geschichtsbücher eingehen als der Tag, an dem der Atomwaffensperrvertrag (NPT) endgültig gescheitert ist.

Dessen Intention war es, den Atomwaffenbesitz dauerhaft auf die fünf ständigen Vetomächte des UN-Sicherheitsrates (USA, China, Russland, Frankreich und Großbritannien) zu beschränken. Dieser Vorsatz ist zwar gescheitert, da sich inzwischen auch Israel, Indien und Pakistan Atomwaffen angeschafft haben. Was allerdings kein Verstoß gegen das Völkerrecht war, da diese drei Länder dem NPT nie beigetreten sind – ganz im Gegensatz zu Nordkorea, das seine Mitgliedschaft im Zuge des eskalierenden Streits über sein Atomprogramm suspendierte. Noch wichtiger als dieser rechtliche sind allerdings drei politische Unterschiede: Die atomare Bewaffnung Israels, Indiens und Pakistans erfolgte mit ausdrücklicher Duldung oder gar handfester Unterstützung einiger UN-Vetomächte – insbesondere der USA, Chinas und Russlands. Israel und Indien gelten (ob zu Recht oder Unrecht, ist irrelevant) als funktionierende Demokratien sowie – ebenso wie die pakistanische Militärdiktatur – als wichtige Verbündete bei der Bekämpfung des Terrorismus. Und keines der drei Länder wurde in Washington oder anderen Hauptstädten jemals als potenzielles Ziel militärischer Präventivschläge in Betracht gezogen.

Pjöngjang hingegen hat sein militärisches Atomprogramm und die gestrige Testexplosion in erklärter Gegnerschaft zur Bush-Administration in Washington durchgeführt und unter scharfer Kritik nicht nur der drei westlichen Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien, sondern, zumindest in jüngerer Zeit, auch Russlands und Chinas. Seit Anfang 2002 wird Nordkorea – damals gemeinsam mit Irak und Iran – von Washington zur „Achse des Bösen“ gezählt. Die Regierung Bush kündigte die Nichtangriffsgarantie, die die Clinton-Administration Pjöngjang im Genfer Abkommen von 1994 gegeben hatte; und seit Verabschiedung der neuen militärischen Sicherheitsstrategie vom September 2002 taucht Nordkorea in zahlreichen sicherheitspolitischen Dokumenten des Weißen Hauses als potenzielles Ziel präventiver Militärschläge der USA auf.

Aus diesen Gründen stärkt das Verhalten Nordkoreas – anders als das Israels, Indiens und Pakistan – in Teheran und manch anderen Hauptstädten diejenigen Fraktionen, die in einer atomaren Bewaffnung des eigenen Landes den einzigen verlässlichen Schutz gegen einen militärischen Angriff sehen. Ganz getreu der Logik, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien Irak im Jahr 2003 niemals angegriffen hätten, wenn Saddam Hussein damals die von der angloamerikanischen Kriegspropaganda behaupteten Massenvernichtungsmittel tatsächlich gehabt hätte.

Auf diese Weise wird die politische Bindungswirkung des Atomwaffensperrvertrags immer schwächer. Zumal die fünf ursprünglichen Atomwaffenmächte ihre Abrüstungsverpflichtung aus dem Abkommen bis heute nicht erfüllt haben.

Nicht nur Zbgniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, plädiert inzwischen offen für eine Abkehr vom NPT und dafür, dass etwa „eine vernünftige Regierung“ in Teheran durchaus über ein gewisses Arsenal an Atomwaffen verfügen solle. Das könne sogar ein „Faktor der Stabilität“ in der Krisenregion Naher/Mittlerer Osten sein, meint Brzezinski. Auch israelische Sicherheitsexperten reden inzwischen – zumindest hinter vorgehaltener Hand – über die Option eines atomaren Abschreckungsgleichgewichts zwischen Israel und Iran. ANDREAS ZUMACH