Keine Atempause

Geschichtsphilosophien sind aus der Mode gekommen. Ein neuer Sammelband sagt: zu Unrecht

Es ist selten, dass wissenschaftliche Bücher, zumal philosophische, ihren politischen Gehalt zwischen der jeweiligen Fachsprache und ritualisierten akademischen Redefiguren noch kenntlich machen. Der von Christian Schmidt herausgegebene Sammelband „Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts“ bildet eine sympathische Ausnahme. Anders als bei vielen Sammelbänden üblich, handelt es sich nicht um wahllos zusammengeworfene Texte, die hauptsächlich der eigenen Veröffentlichungsliste dienen, sondern um eine inhaltlich kohärente und gesellschaftspolitisch relevante Zusammenstellung.

Denn was die Konzeption des Bandes sowie der meisten Beiträge bewegt, ist eine vorsichtige Vermutung von einiger Tragweite: Haben nicht sowohl die postmoderne Skepsis gegenüber jeglichen Geschichtserzählungen als auch die Rede vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) ein Vakuum hinterlassen, dessen Auswirkungen recht eigentlich erst im 21. Jahrhundert spürbar werden? Wäre es also nicht an der Zeit, sich jener Geschichtsphilosophien zu besinnen, deren Zweck ein handlungsmächtiges Subjekt war, das seine Praxis auf einen Horizont zukünftiger Möglichkeiten hin entwirft, ja sogar so etwas wie Utopie wieder denken kann?

Antworten gibt der Sammelband, nicht ohne die Fragen zunächst zu verkomplizieren. Denn sowohl historisch als auch aktuell sind die Versuche eines Ausbruchs aus der Geschichte durchaus unterschiedlich. Überzeugen mögen heute weder die Resignation des Historismus noch die Abgeklärtheit des sogenannten Posthistoire.

Fortschritt? Nicht wirklich

Aber auch das Vertrauen in Geschichte, das noch aus Hegels Idee vom „Fortschritt im Bewusstsein von Freiheit“ sprach, dürften heute nur noch wenige teilen. So geben sich nicht wenige Beiträge und die in ihnen verhandelten Lösungsvorschläge in gewissem Sinne geläutert.

Michel Foucaults Modell der Kritik als Lebensform beispielsweise, diskutiert im Beitrag von Christian Schmidt, ist eines der Vorläufigkeit. Noch bevor über einen möglichen Bruch mit der Gegenwart nachgedacht werden kann, gelte es, die Bedingung der Möglichkeit zu erhalten, so etwas überhaupt denken zu können. Auch Christoph Menkes Entwurf beruht auf einem prozessualen Verständnis von Freiheit als Befreiung. Nicht ein befreiter Zustand wird also anvisiert, sondern die kontinuierliche Auseinandersetzung mit und Konfrontation von Vergangenheit und Zukunft löst ein, was die Aufklärung einst versprach.

Doch die vielleicht größte Schwierigkeit, die auch der Herausgeber Christian Schmidt in seiner Einleitung bemerkt, verbirgt sich hinter dem kleinen Wörtchen „wir“, das sich im Titel findet. Dies hätte durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm im Sammelband zuteil wird. Zumal die Frage nach dem Subjekt notwendig von Philosophie zur Realgeschichte geführt hätte, die in vielen Beiträgen auffällig abwesend ist. Denn im 21. Jahrhundert, mehr als 20 Jahre nach 1989, scheint sich nicht nur die Geschichte zurückzumelden, sondern es zeigt sich auch, dass die Evidenz politischer Einordnung nach dem Ende des Systemkonflikts keineswegs mehr so einfach gelingen mag. So erweisen sich nicht wenige politische Bewegungen neuerer Zeit – ob in New York, Kairo oder Griechenland – als Mischung traditionell linker wie konservativer Positionen.

Die von Jacques Rancière entlehnte Rede vom Subjekt der Geschichte als „leerer Name“ macht aus der Not, dass das „wir“ vollkommen heterogen und flüchtig geworden ist, eine Tugend, statt sie kritisch auf den Punkt zu bringen. Um dies jedoch leisten zu können, braucht es die historische Urteilskraft, zu der der Sammelband einen Beitrag leisten möchte.

Beantwortet ist die Frage, ob wir der Geschichte entkommen können, also noch lange nicht.

ROBERT ZWARG

Christian Schmidt (Hg.): „Können wir der Geschichte entkommen? Geschichtsphilosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts“. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 324 Seiten, 29,90 Euro