Trauer und Verschwendung

Gesten der Freigebigkeit, emanzipatorischer Drive und die Bereitschaft, sich der Leere anheimzugeben: Der Hamburger Bahnhof in Berlin präsentiert eine Retrospektive mit Werken des 1996 verstorbenen Künstlers Felix Gonzalez-Torres

Fast allen Arbeiten ist eigen, dass sie umso weniger werden, je mehr Leute davon Gebrauch machen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wer sorgt eigentlich für den Nachschub? Gleich hinter den Türen des Hamburger Bahnhofs, in der zum Museum umgebauten Abfahrtshalle, empfängt den Besucher, noch bevor er eine Eintrittskarte gelöst hat, ein großes, glitzerndes Feld. Es ist glamourös, und es ist Talmi, bestehend aus hunderten, wenn nicht tausenden von in Goldpapier gewickelten Bonbons. Als ob ein Prinz Karneval hier ein einziges Mal so freigebig gewesen wäre wie die Kinder, die ihm zuwinken, es immer erhoffen. Und weil von den Bonbons im Hamburger Bahnhof jeder eines mitnehmen, essen oder aufbewahren kann, das Werk aber bleibt, muss für Nachschub gesorgt werden.

Das Feld mit der Bezeichnung „Untitled (Placebo – Landscape – for Roni)“ stammt von Felix Gonzalez-Torres, aus dem Jahr 1993. Gonzalez-Torres legte damals fest, dass jeder Besitzer oder Aussteller das Nachfüllen besorgen muss. Es ist eine Geste der Großzügigkeit und der Verschwendung, die nicht nur in diesem Fall sein Werk auszeichnet – und die dabei fast immer auch den Gedanken an das eigene Ende vorwegnahm. Als Künstler hat er gehandelt wie der Gutsherr in Theodor Fontanes Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“. Der ließ sich eine Birne mit in sein Grab geben: „Und kommt ein Jung’ übern Kirchhof her, / so flüstert’s im Baume: ‚Wist’ne Beer?“

Einmal hat Felix Gonzalez-Torres Geier fotografiert: Zuerst denkt man, die Bilder seien fast leer, nur heller Himmel, bis man darin erst einen kleinen Punkt und dann immer mehr der Vögel entdeckt und ihre enger werdenden Kreise erkennen kann. Nichts in der Serie ist dramatisiert; kein Teleobjektiv zoomt sich an die Vögel ran, auch ihre Beute sieht man nicht. Die äußerst lakonische Arbeit von 1995 bildet den Schlusspunkt der Ausstellung, die zum zehnten Todestag des Künstlers, der 1996 starb, eingerichtet wurde.

Den Tod und das Verschwinden zu thematisieren, war für Felix Gonzalez-Torres mehr als ein persönliches oder biografisches Motiv. Viele seiner Arbeiten bestehen aus reproduzierbaren Waren, eben unterschiedlichen Bonbonschüttungen und Stapeln von kopierten Papieren, die sich wie Flugblätter verstehen. Allen ist zu eigen, dass sie um so weniger werden, je mehr Leute von ihnen Gebrauch machen. Ihre minimalistische Gestaltung – oft ist nur eine kleine Anzeige in die Mitte gedruckt oder das Blatt wie Tag und Nacht in eine weiße und schwarze Seite unterteilt – wird zum Teil der Botschaft, des Zusteuerns auf die Leere. Doch diese Geste, sich dem Gedanken an das Ende oder der Leere auszusetzen, erhält einen sehr genauen historischen und politischen Kontext durch die Textzeilen und Datensammlungen, die das zweite große Element von Gonzalez-Torres’ Werk bilden. Denn teils auf die Papierstapel gedruckt, teils auch als langer, umlaufender Fries auf die Wände des Museums geschrieben oder als Schriftfolge auf Billboards im öffentlichen Raum gehören sie alle zu einer besonderen Geschichte.

Helms Amendment 1987; Anita Bryant 1977; Alabama 1964; Oscar Wilde 1895; Bitburg Cemetery 1985: Es ist eine endlose Ketten von Daten, die auf Akte der Diskriminierung und der emanzipatorischen Bewegungen dagegen verweisen. Dabei geht es um soziale und ethnische Ausschlüsse ebenso wie um sexuelle Repressionen. Zu der Ausstellung im Hamburger Bahnhof gehört ein Archiv, in dem man die Bedeutung der Daten nachlesen kann. Mit ihnen verlinkt sich Felix Gonzalez-Torres ständig mit einem politischen Diskurs. Und oft fließen zwischen diese Aufrufe der Geschichte biografische Details, die von persönlichen Katastrophen erzählen, von Todesfällen, Krankheiten, Liebeskummer. Jeder dieser Texte scheint ein zum Mantra verdichteter Ausschnitt des Ganzen, und das Ganze handelt davon, dass Liebe, Sex, Gesundheit und Krankheit nicht allein Privatsache und persönliches Schicksal sind, sondern unmittelbar von politischen Systemen und Ideologien berührt und geprägt werden.

Felix Gonzalez-Torres, 1957 auf Kuba geboren, wo er bis 1971 lebte, wurde später amerikanischer Staatsbürger – ab 1979 wohnte er in New York. Bevor er 1996 starb, hatte er teils als Mitglied der Künstlergruppe „Group Material“, teils als Solist die Bewegung vorangebracht, die die Krankheit Aids öffentlich thematisierte und gegen das Verstecken von Homosexualität auftrat. Seine Werke aber wendeten dieses Aufbegehren meist in eine spielerische und liebevolle Geste um. Man kann sie auch als Aufforderung lesen, das Leben zu feiern: Wie etwa die Ketten von 15-Watt-Glühbirnen, die jeden Raum mit sanfter Festvorfreude füllen.

Kurator der Ausstellung ist Frank Wagner vom Realismusstudio der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin, die Gonzalez-Torres seit 1988 in fünf Ausstellungen zeigte. Der zehnte Todestag des Künstlers ist Anlass für die große Präsentation im Hamburger Bahnhof: Sie verbindet sich da etwa mit einer Arbeit von Damien Hirst aus dem Jahr 2000, einem Monument des legalen Drogenkonsums und des Erfindungsreichtums der Pharma-Industrie, das aus vielen, vielen bunten Pillen in endlosen Reihen vor spiegelndem Hintergrund besteht: Auch das ein Verweis auf den politischen und ökonomischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit, der den jüngeren britischen Künstler in die Nähe von Gonzalez-Torres bringt.

Von solchen Dialogen und Bündnissen hätte man sich viel mehr gewünscht: Die Arbeiten von Felix Gonzalez-Torres vereinsamen in der Ausstellung im Hamburger Bahnhof zu einem Monolog, der sich wiederholt. Die Werkschau erinnert an ein Mausoleum, in dem Geschichte erstarrt; obwohl doch gerade dieser Künstler immer wieder an ihrer Verflüssigung und Vergegenwärtigung gearbeitet hat. Was immer an seinen Werken Agitprop war, scheint seinen Adressaten verloren zu haben. Museal befriedet haben sie kaum noch an jener größeren Öffentlichkeit teil, die von den Werken immer mitgemeint ist.

Bis 9. Januar, Katalog 24 Euro