Die Grenze der Integration

GOETHE-INSTITUT Das Forum „Illusion der Nähe“ des Goethe-Instituts widmete sich Ausblicken auf die Gestalt der Europäischen Nachbarschaft von Morgen

VON MARTIN REICHERT

„Illusion der Nähe“, mit diesem schönen Titel bedachte das Goethe-Institut sein Europa-Forum, das sich vorgenommen hatte, nach vorn zu blicken auf die europäische Nachbarschaft von morgen. Um Nachbarn also sollte es gehen. Von Deutschland aus betrachtet vor allem um Frankreich im Westen und Polen im Osten. Um Nachbarn also, die länger als nur eine Stunde verweilen, sondern ständig da sind und mit denen es nicht immer so gut lief in der Vergangenheit.

Der Ort des Forums, der stillgelegte Berliner Flughafen Tempelhof, funktionierte daher auch nicht in erster Linie als Transitraum – die Schalter sind für immer geschlossen –, sondern eher als gigantische Erinnerung an die Irrwege, die Deutschlands Mittellage vor der europäischen Einigung verursachte. Der einst von den Nazis erbaute Flughafen, dessen Rollbahn nun als Park ein Ort weitläufiger Freiheit inmitten der Stadt ist, war insofern nicht schlecht gewählt vom Goethe-Institut, das vor fast sechzig Jahren gegründet wurde, um Deutschland über Kultur und Bildung eine Rückkehr in jene zivilisierte Welt zu ermöglichen, mit der es gebrochen hatte. Die von anderen Flughäfen startenden Billigflieger, mit denen insbesondere die Jugend mal eben zu einem Konzert nach Krakau fliegt, zeugen von einer funktionierenden europäischen Einigung. Und doch droht Ungemach: Renationalisierung, die Verwerfungen der Finanzkrise, die Diskussionen über die EU-Verfassung. „Wo haben uns die Griechen reingelegt“, titelt der Boulevard am Tag der Veranstaltung.

Heikle Nachbarschaft

Nachbarschaft kann heikel werden, man muss ja nur zur Tür nebenan gehen, schließlich ist der Begriff der Nachbarschaft laut Karl Braun, Ethnologe und Forum-Teilnehmer, ein Regler, den man von der Mikroebene persönlicher, lokaler Näheverhältnisse auf die Makroebene politischer und zwischenstaatlicher Beziehungen hinauf- und wieder herunterfahren kann.

Heinz Buschkowsky, der SPD-Bezirksbürgermeister des unweit von Tempelhof liegenden Berliner Bezirks Neukölln, würde das nie so ausdrücken, auch wenn er vielleicht das Gleiche meinte. Eingeladen war er, um mit dem Stadtsoziologen Walter Siebel und der Politologin Manuela Bojadzijev über die Stadt als transnationalen Raum zu diskutieren: „Von der Parallelgesellschaft zur guten Nachbarschaft“? Ein wenig schüchtern setzen sich die Besucher an den runden Tisch, der so groß ist, dass auch die Zuhörer an ihm Platz finden.

„Illusion der Nähe“, Walter Siebel sagt, dass man sich nahekomme sowohl in der Absicht, sich zu prügeln, als auch in jener, sich zu umarmen. Er sitzt direkt neben Buschkowsky, der nicht wie Siebel von Kontexteffekten und ethnischen Kolonien spricht, sondern von Regeln, die eingehalten werden müssen. Von Schulpflicht und Strafen gegen Zwangsehen. Von deutschen Verlierern und solchen mit Migrationshintergrund, die alle in seinem Viertel wohnen, und von erfolgreichen Deutschen, die lieber das Weite suchen, weil sie zwar mit diesen Nachbarn leben könnten, aber ihre Kinder nicht auf dieselben Schulen schicken möchten.

Manuala Bojadzijev will nicht über Integration sprechen, weil der Begriff falsch sei, Buschkowsky will nicht über Begriffe reden, sondern den Diskurs verrechtlichen. Man redete trotzdem miteinander. Drei Tage lang, in mal kleineren, mal größeren Kreisen. Über das europäische Wir, über eine Kulturpolitik der Nachbarschaft, über deutsch-polnischen Fatalismus Revisited.

Der Veranstaltung ein Ende setzte ein Vertreter jener Zunft, die für das Miteinander der Staaten hauptberuflich verantwortlich ist und doch nie Tacheles reden darf, so wie Heinz Buschkowsky.

Erste zentrale Rede

Der oberste Diplomat, Außenminister Guido Westerwelle (FDP), hielt seine erste zentrale Europa-Rede. Wäre er wie sein Vorredner, der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy, dann hätte er nun schöne Sätze über Nachbarschaft gesagt. „Uns blickt dasselbe Pferd ins Fenster“ oder „Die geringsten Unterschiede sind die trefflichsten“.

Als Außenminister muss Westerwelle Sätze sagen wie: „Am meisten von der EU profitiert haben die Deutschen“ oder „Die Aussöhnung mit Polen bleibt die Aufgabe unserer Nation“. Und in Richtung Neukölln: „Es gibt Muslime, die sind gute Ärzte, und es gibt Christen, die sind schlechte.“ Nicht so schön gesagt, aber auch wahr. Und da war sie dann wieder, die Grenze der Integration: die EU-Außengrenze natürlich. Dahinter nichts als Nachbarn.