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Archiv-Artikel

Vom Tast-Globus zur Ganzheit

Am 13. Oktober 1806 wurde von Johann August Zeune in Berlin die erste deutsche Blindenschule eröffnet. 200 Jahre später ist sie noch immer ein Vorreiter für die Förderung von blinden Kindern

von Markus Wanzeck

Am Anfang bestand die Schülerschaft der „Preußisch-Königlichen Blindenanstalt“, der ersten deutschen Schule für Blinde in Berlin-Mitte, aus exakt einem Blinden. 200 Schuljahre später hat sich die Schule enorm entwickelt: Vom Kleinst-Betrieb ist sie zu einer Blindenbildungseinrichtung mit über hundert Lehrern, Therapeuten und Betreuern angewachsen. Heute bietet die Einrichtung 28 höchst unterschiedliche Schulbildungs- und Förderklassen – ein Rundum-Angebot von Kleinkinderunterricht bis hin zu Punktschriftkursen für Späterblindete.

Es gebe zwar inzwischen deutschlandweit etwa 60 vergleichbare Einrichtungen für Blindenbildung, sagt der heutige Schulleiter Thomas Kohlstedt. Doch die stießen meist an eine Grenze, vor der die Schule nicht zurückschreckt: „Wir wagen uns auch an die Beschulung psychisch Kranker. Das ist in Deutschland bislang nicht üblich. Aber es ist wichtig, dass man diese Menschen nicht einfach in der Psychiatrie abstellt.“ Seit fünf Jahren gibt es deshalb für blinde Schüler mit psychischen Erkrankungen zusätzliche Betreuung oder Einzelunterricht. Darin übernimmt die Johann-August-Zeune-Schule einmal mehr eine Vorreiterrolle.

Schon vor 200 Jahren war dem Schulgründer Johann August Zeune Großes gelungen. Die Ideale der Aufklärungsbewegung – Individualität und Freiheit – wurden um das gleichfalls aufklärerische Moment der Gleichheit ergänzt: Erstmals hatten nun auch blinde Menschen eine Chance auf Bildung.

In einer Zeit, in der Blinde vom gesellschaftlichen Leben und dem Arbeitsmarkt weitgehend ausgeschlossen waren, kam dies einer Revolution gleich. Waren sie zuvor auf fremde Hilfe angewiesen, in der Familie oder als Bettler auf der Straße, hatten Blinde von nun an auch Zutritt in die Erwerbswelt. Die Blindenbildung bedeutete für sie einen beispiellosen Freiheitsgewinn.

Auch heute noch fühlt sich die Schule diesem Ziel verpflichtet. Blinde oder sehbehinderte Kinder und Jugendliche sollen mit einer möglichst individuellen Förderung zu Selbstständigkeit und sozialer Integrationsfähigkeit verhelfen. Das breit gefächerte Bildungsangebot habe sich bewährt und soll schrittweise erweitert werden, etwa durch ganzheitliche Betreuung in kleinen Gruppen.

Doch zuerst wird Kohlstedt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In dem 1877 errichteten roten Backsteinbau in Steglitz werden derzeit die Fußbodenbeläge erneuert und um ein modernes Blindenleitsystem ergänzt. „Auf geht’s“, ruft er den Handwerkern zu, „die Herbstferien sind bald zu Ende. Am Montag werden die Gänge von einer Schülerschar geflutet.“

Die Johann-August-Zeune-Schule ist derzeit auch Thema in der Sonderausstellung „Fühlen, Hören, Sehen“ im deutschen Technikmuseum. In der für Sehende wie Blinde konzipierte Ausstellung kann 200 Jahre Blindenbildung in Berlin betrachtet – und betastet – werden. Eines der Exponate ist ein Reliefglobus, mit dem man die Erdoberfläche ertasten kann. Es war solch ein „Tast-Erdball“, mit dem der Geograf Zeune den ersten Erdkundeunterricht für Blinde bestritt und eine ganze Bewegung ins Rollen brachte.