: Homo informationicus
Wie finden wir, was wichtig ist? Auf Spurensuche jenseits der Netzwelt
VON VERA KERN, CHRISTINA SCHMIDT UND DANIEL STAHL
Ein Junge, etwa zwölf, steht rätselnd vor einer Wand voller rotierender Scheiben. „Pass auf, ich zeig’s dir“, sagt sein Vater zu ihm. Um sie herum knallt, rasselt und klappert es, Kinder kreischen, während sie vom verzerrenden Spiegel zum Parabelbillard laufen. Peter ist mit seinen Söhnen ins Spektrum gekommen, einer Experimentierstube des Technikmuseums Berlin. Das Haus ist voller Familien, die Physik verstehen wollen.
Wie die meisten kleinen Besucher begreifen Peters Kinder mit ihren neun und zwölf Jahren längst nicht alle dargestellten Naturgesetze, „aber selbst bei den schwierigen Elektronikbeispielen lernen sie immerhin, dass es nicht reicht, auf einen Knopf zu drücken, damit etwas passiert“, erklärt der Vater. Selbst nach drei Stunden langweilen sie sich nicht.
Möglichst alles wissen ist die Maxime unserer informierten Gesellschaft. Eine Anleitung, wie wir das für uns Wichtigste herausfiltern können, bietet uns keiner. Wie aber können wir der Flut der Informationen begegnen, ohne darin unterzugehen? Ganz unbewusst finden die Kinder im Museum Wege, sich komplexen Zusammenhängen zu nähern. Finden auch wir Strategien, um die vielen Informationen zu verwerten?
Das Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum ist ein großer Würfel an der Spree. Klare Linien, nur Geraden. In der Bibliothek der Humboldt-Universität konzentrieren sich Studierende an langen Holztischen. Alles ist still. Außer dem Klappern von Laptoptastaturen und dem Klackern von Schuhabsätzen ist nichts zu hören. Pssssst, hier wird gedacht. Martin sitzt vor dem Gebäude und raucht eine Pausenzigarette. Seit drei Jahren tüftelt er an seiner Diplomarbeit in Mathe an Formeln und Variablen herum.
„Ich brauche die Ruhe, um meine Gedanken ordnen zu können.“ Hier lenkt ihn nichts ab: kein Abdriften ins Internet, kein Handy. Nichts stört seinen Ideenfluss. Wenn er seine Gedanken schweifen lassen will, zieht er ein Geschichtsbuch aus dem Regal und blättert darin. Wissen muss auch reifen.
Doch für langsames Studieren bleibt selten Zeit. Inzwischen verdienen Unternehmen viel Geld damit, neue Techniken zu vermitteln, mit denen Leser in kürzester Zeit möglichst viele Informationen aufnehmen können. Lehrbücher, Trainingsgeräte und Intensivseminare sollen helfen, nicht mehr zwischen Informationen entscheiden zu müssen, sondern sich der Völlerei ergeben zu können.
Geradezu asketisch wirken dagegen Lesezirkel, die versuchen, durch intensives Studium einzelner Schriften die Zusammenhänge ihrer Lebenswelt zu begreifen. Mit den Schnelllesern gemein haben sie das Ziel zu verstehen – doch gegensätzlicher könnten die Wege kaum sein. Inmitten der Informationsgesellschaft entstehen so Inseln, wo Menschen gemeinsam tief bohren, nachhaken, die Hirnkapazitäten ausreizen und Sloterdijks „Du musst dein Leben ändern“ auch nach drei Semestern nicht durchdiskutiert haben. Verstehen wir die Zusammenhänge besser, wenn wir darüber sprechen?
Kreuzberg, Sportbar Beylerbeyi, in der Nähe vom Kottbusser Tor. Ein Fußballreporter kommentiert Hertha gegen Ingolstadt, ab und zu schaut jemand auf den Fernsehbildschirm. Daneben sind ältere Männer in ihr Okeyspiel vertieft. Blitzschnell klackern Spielsteine auf die Tischplatte. Wer nicht mit von der Partie ist, plaudert mit den anderen und raucht – oft stundenlang. „Noch einen Tee, bitte!“ Engin, Dreitagebart, wacher Blick, zieht sein Handy aus der dunkelbraunen Lederjacke. Als er auflegt, dreht er sich sofort zu seinen Freunden um und verbreitet, was er erfahren hat. Die Sportbar ist für die Männer ein Umschlagplatz für Neuigkeiten: Der Nachbar hat ein Enkelkind bekommen, bei der Verwandtschaft gab es ein Erdbeben, wo ist in Berlin eine Wohnung frei? „Hier bekommen wir alle Infos aus erster Hand“, sagt Engin.
Alles, was die Menschen im Beylerbeyi betrifft und interessiert, wird am Stammtisch ausgetauscht. Sie lesen auch Zeitung, sehen Fernsehnachrichten und surfen im Netz. Aber was für sie wirklich wichtig ist, das erfahren sie von Freunden im Gespräch.
Eilen oder auch mal zwischen den Zeilen verweilen: Auf der Suche nach Wissen gibt es viele Strategien, die Informationsflut zu bewältigen. Manchmal lässt sich die Masse kaum begreifen. Vielleicht ist es die Suche selbst, die uns lernen lässt.