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Archiv-Artikel

Geteerte Überwendlingsstiche

Eine Näherin kennt verschiedene Stiche, um Stoffe zusammenzufügen. Der Überwendlingsstich ist dabei einer der einfachsten. Ohne Schnickschnack, ohne Vor und Zurück, ohne Schlaufen und Schleifen. Jedes Kind erfindet ihn intuitiv neu, wenn es etwas zusammennähen soll, jeder Minderbegabte, der plötzlich mit Nadel und Faden hantiert, würde noch darauf kommen – ob akkurat, schief oder schräg. Der Überwendlingsstich ist der Überwindungsstich aus der Lamäng. Auf Englisch heißt er „whipstitch“, also Peitschenstich. Das lässt Raum für Interpretationen, denn Überwindung und Peitsche ist SM. Beim Versuch, eine französische oder kroatische Übersetzung zu finden, streiken die Suchmaschinen im Netz. Sie meinen, man habe sich womöglich vertippt, suche vielleicht „Überwachungsstaat“ oder „Lippenstift“.

Egal, für diesen Text reicht es, dass es ein deutsches und ein englisches Wort gibt. Denn es geht um den Flickenteppich Europa, der zusammengenäht werden soll. Womit? Mit Autobahnen (Deutsch) und der Verkehrssprache (Englisch) natürlich. Wer sich die Landkarte anschaut, erkennt es sofort: Autobahnen, Motorways, sind der Überwendlingsstich, der Whipstitch der Europäischen Union. Egal wie, sie werden gebaut, um die europäische Landkarte zusammenzuflicken. Es muss nicht schön sein, nur funktional. Es muss nicht in die Landschaft passen, die Verbindung muss nur die kürzeste und schnellste sein. Und da kommt dann auch wieder SM ins Spiel. Denn Autobahnen bereiten denen, die sie entlangrasen – sprachlos zumeist, wenn doch sprechend, dann in feinstem Verkehrsenglisch: super, cool, fuck – höchste Lustgefühle. Dass sie auch Qual sind, überwachte womöglich, dass der SM darauf täglich zu humanen Kollateralschäden führt, ist europäische Binsenweisheit. Also ganz okay. Oder? WALTRAUD SCHWAB