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Archiv-Artikel

Die Künstlerin des Unterschieds

Sie ist ins Exil gegangen, aber nie richtig Amerikanerin geworden. Das Wissen um den Holocaust machte es ihr unmöglich, je wieder Deutsche zu werden. Dieser Zwiespalt zeichnet das Leben der Hannah Arendt aus. Und er ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis ihres Denkens – leidenschaftlich gegen Totalitarismus, vehement für modernes Weltbürgertum

von MARIE LUISE KNOTT

Im Juni 1948 fragte Dolf Sternberger, der ehemalige Redakteur der Frankfurter Zeitung, der 1946 die Zeitschrift Die Wandlung gründete, die emigrierte Jüdin Hannah Arendt, ob sie nicht nach Deutschland kommen und für einige Monate die Zeitschrift leiten wolle. Es war die Zeit, da die Nichtjuden in der Emigration über Rückkehr nachdachten – sei es, weil sie am Wiederaufbau mitwirken, sei es, weil sie dem McCarthyismus entgehen wollten. Bereits 1947 war die erste Essaysammlung von Hannah Arendt im Nachkriegsdeutschland erschienen, das damals noch keine Republik war. Die Verführung, die eigene Sprache wieder schreiben zu dürfen, ist die „einzige Heimkehr, die man nie ganz aus den Träumen verbannen kann“, sagte Arendt, die sich 1948 nicht mehr als emigrierte Deutsche verstand, denn in dem „leeren Raum, der sich nach Auschwitz auftut“, begegnen sich, wie sie schrieb, nicht Nationen und Völker, „sondern nur noch Einzelne, die nach anderen Überlebenden suchen, welche auf dem gleichen Wasser im gleichen Rhythmus herumstochern“. Auf dem gleichen Wasser, im gleichen Rhythmus – Karl Jaspers und Dolf Sternberger waren die ersten Verbindungen.

Auf Sternbergers Anfrage antwortete Arendt frank und frei: Nein, sie wolle keine solche Funktion einnehmen. Sie kenne die deutsche Öffentlichkeit nicht oder nicht mehr, argumentierte sie, und wusste gleichzeitig, dass sie sie auch zu gut kannte. Die Folge davon sei, dass sie sich an keine der vorhandenen Tabuisierungen halten könne und auch nicht würde halten wollen. Ja mehr noch: Mit mir, so Arendt sinngemäß, kämt ihr „in eine unmögliche Situation“, „da ich nie auch nur zu der allerkleinsten Konzession bereit wäre, etwas, was ihr euch bereits nicht mehr vorstellen und auch gar nicht leisten könnt, was ich mir aber leisten können muss“.

Begegnung mit den USA

Knapp und klar wird die durch die Vernichtungslager geschaffene Unüberbrückbarkeit der Zugehörigkeiten definiert. Sie ist eine Fremde, eine Vertriebene, eine dem gegen sie als Jüdin verhängten Vernichtungsbeschluss Entronnene. Sie hat nicht die nachkriegsdeutschen Tabus im Kopf und im Körper, weshalb sie so sicher wie das Amen in der Kirche Anstoß nehmen und selber Anstoß werden wird. Und was Deutschland anbetrifft, wo die Leute, „nicht wissen, was sie getan haben“, oder es eben partout nicht wissen wollen, und wo sie im Zweifelsfall aufgrund der Erfahrung und des Temperaments gewiss zu keiner Konzession bereit wäre, träfe diese Gefahr in besonderem Maße zu. Der Antisemitismus war in Deutschland nicht besiegt. Das wusste sie. Außerdem, schrieb sie: „Ich habe genug Kummer mit faschistischen Gruppen und Tendenzen in Palästina. Ich will keinen deutschen Kummer.“

Als Hannah Arendt 1933 aus Deutschland floh, war sie Zionistin; sie kämpfte schreibend für eine jüdische Armee und eine jüdische Repräsentanz bei den Friedensverhandlungen, forderte ein föderiertes Mutterland Palästina, in dem die Juden in Frieden mit ihren Nachbarn das Land teilen sollten. Ihr Konzept scheiterte, ihre politische Zugehörigkeit zum Zionismus endete. Gleichwohl – ihre Zugehörigkeit zum Judentum sorgte dafür, dass das Schicksal des jüdischen Volkes die brennendste Frage blieb. Als euroamerikanische Jüdin engagierte sie sich Ende der Vierzigerjahre für eine säkulare jüdische Kultur, schrieb über die „verborgene jüdische Tradition“. Am eigenen Leibe hatte sie, die 1937 ausgebürgert wurde, erfahren, dass Staatenlosigkeit völlige Rechtlosigkeit bedeutete. Ein jüdischer Staat garantierte den Juden Rechte. Die Frage: Wie kann man dem Menschen unabhängig von seiner staatlichen Zugehörigkeit Menschenrechte und Menschenwürde garantieren?, mündete in die Forderung nach einem universellen „Recht, Rechte zu haben“. Als sie 1950 amerikanische Staatsbürgerin wurde, schrieb die belesene „Femme de lettres“ an Günther Anders, ihren ersten Ehemann: „Ich habe einen Pass! Das schönste Buch!“

„Zu meiner Citizen-Prüfung habe ich ein wenig Verfassungsgeschichte gelernt. Wirklich großartig, bis in jede einzelne Formulierung hinein. Und vieles ist davon noch lebendig, und Sie hätten es unschwer gesehen, auch da, wo die Einheimischen kaum noch etwas davon wissen, so sehr ist es ihnen in Fleisch und Blut gegangen“, schrieb Arendt an Karl Jaspers zur gleichen Zeit. Sie war fasziniert von der politischen Kultur Amerikas, von der Föderalstruktur und von der Idee der Pluralität. Hier entwickelte sie, ausgehend von ihrer Erfahrung in der zionistischen Bewegung, ihre Theorie des politischen Handelns. „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Die Freiheit, die öffentlichen Angelegenheiten aushandeln zu können. Die Gründerväter – ein leuchtendes Beispiel. Peu à peu engagiert sich Arendt in inneramerikanischen Debatten. Die Öffentlichkeit nimmt Anstoß an dem, was sie schreibt – einige sind begeistert, andere irritiert. 1954 warnt sie die Amerikaner, ihre Überheblichkeit könne in Europa zu Antiamerikanismus führen. Emigranten, das spürt man bei jedem ihrer Aufsätze, verfügen über intime Kenntnisse, ohne sich in die „Nestwärme“ der herrschenden Kultur einkuscheln zu können. Sie bleiben Parias. Sie sehen anders. Und anderes. Wenn alles besonders gut geht, gereicht das allen zum Vorteil.

Begegnung mit Eichmann

Bei jedem Emigranten gibt es bei aller Ambivalenz irgendetwas, was ihn in die Heimat zurückzieht. Ab 1949 reiste Arendt regelmäßig nach Europa und vor allem nach Deutschland. Nach einem Besuch 1950 bei Melvin Lasky, dem amerikanischen Publizisten, der mit der Besatzungsarmee nach Deutschland gekommen war und hier den Monat herausgab, schrieb sie an ihren Mann Heinrich Blücher: „Ich stellte für ihn Amerika dar. Sehr lustig. Ich erklärte ihm rasch ein bisschen Deutschland, auch sehr lustig.“ Die Emigrantin hatte in Amerika ein neues Zuhause gefunden. Auch wenn sie nicht so weit ging, wie Louis Begley, der niemandem oberhalb einer gewissen Altersgrenze die Hand schüttelte, war sie auf der Hut. Auf der Hut vor allem davor, als Emigrantin missbraucht zu werden, nach dem Motto: Seht ihr, wir sind gar nicht so fürchterlich, selbst die kritischen Stimmen kommen ja wieder zurück und wollen hier anerkannt sein. Präventiv gegen diesen Missbrauch lebte und agierte sie in beiden Kulturen verschieden. Politik ist die Kunst, Unterscheidungen zu treffen. Jeden Auftritt gestaltete sie entsprechend der jeweiligen Öffentlichkeit, auf die sie traf. Ein Vortrag in Freiburg über Walter Benjamin etwa begann mit einer Belehrung darüber, wie Juden in der Weimarer Zeit im Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt wurden, der gleiche Vortrag im selben Jahr in Amerika begann typischerweise mit einer Belehrung über Nachruhm.

Eine deutsche Jüdin, eine angehende Philosophin, die, von Antisemitismus und Hitlers Judenverfolgung vertrieben, als Zionistin nach Amerika geflohen war, wo sie eine neue Öffentlichkeit gefunden hatte, reiste 15 Jahre nach Kriegsende für ein US-Magazin nach Israel, wo eine der zentralen Figuren der Judenvernichtung vor Gericht stand, der – nunmehr staatenlos – in einer äußerst umstrittenen Entführungsaktion nach Israel gebracht worden war. Gerichtet von noch in Deutschland ausgebildeten Richtern, in einem Staat, zu dessen Gründungsmythos eben die Judenvernichtung gehörte. Und Arendt sitzt da im Auftrage des New Yorker und ist alles in einem: zum einen die amerikanische Bürgerin und Bürgerrechtlerin, die sich über die nichtsäkulare israelische Zweibürgergesellschaft aufregt, zum zweiten die der planmäßigen totalen Vernichtung Entronnene, die das Monströse in Eichmann sucht und das Banale, Gedankenlose antrifft, und drittens die Jüdin, die im Krieg für jüdischen Widerstand gekämpft hatte und nun befürchtet, der Eichmann-Prozess würde dem jüdischen Volk – ein zweites Mal – erklären, dass es angesichts der Monstrosität der Nazis keine Handlungsräume gab, dass die Geschichte so und nicht anders verlaufen musste. Das aber genau war ihre politische Theorie, dass Politik jeden „Lauf der Dinge“ unterbrechen kann. Doch, ruft sie im Eichmann-Buch dem Staatsanwalt scheinbar zu: Die Geschichte hätte in jedem Moment auch anders verlaufen können – jeder hätte sich in jedem Moment anders verhalten können! Der Gründungsmythos des politischen Gemeinwesens Israel, so die Theoretikerin des Handelns, darf nicht auf der Ohnmacht meines Volkes aufbauen! In Arendts Report ertönten all diese Motive, und Mary, die Freundin, hörte sie alle und schrieb: „… und ich hörte eine Melodie – kein Lied des Hasses gegen totalitäre Strukturen, sondern einen Gesang auf die Transzendenz, himmlische Musik wie in dem Schlusschor des Figaro oder im Messias – Der Leser erhob sich über die schreckliche Materie des Prozesses oder wurde emporgetragen, um ihn kraft seiner Einsicht zu überblicken.“

Das Staunen sowie die Sorge um die Welt, diese beiden Motive ihres Denkens zeugen von einer zentralen Zugehörigkeit, die in diesem ihrem Jahrhundert für Juden nicht mehr selbstverständlich war: Arendt praktizierte eine äußerst aktive Form, nicht einer Nation, sondern der Welt, dieser gemeinsamen, mit allen Sinnen und Kräften zugehörig zu sein. Und dazu gehörte es, im Zweifelsfall, wenn es die Dringlichkeit der Lage nötig machte, sein Wissen und seine Einbildungskraft von überall her zu suchen – „men needs help from every creature born“, wie es Brecht einmal für das Überleben in düsteren Zeiten formulierte. Sie war eine Philosophin, sie war ein politische Theoretikerin, sie hat über Schriftsteller geschrieben, Gedichte rezitiert, selber Gedichte geschrieben und vor allem dichterisch gedacht. Sie hat keine Schule gemacht, sich zu keiner Strömung zugehörig gefühlt, aber immer den Menschen. Nicht nur ihrem Mann, sondern auch Karl Jaspers („Mein europäisches Zuhause“). Im Zentrum ihrer Sorge stand die Freiheit, die sich nur im Sprechen und Handeln realisieren lässt, im Hören und Gehörtwerden, im gemeinsamen Aushandeln der gemeinsamen Welt also. Ihr Werk ist bis heute nur zu Teilen in Buchhandlungen erhältlich. Welche Werke es gibt, schwankt, je nach Rezeptionswellen. Diese deutsch-jüdisch-amerikanische Denkerin ist noch nicht als das gewürdigt worden, was sie ist, „eine große Beginnerin“, die wie keine die Kunst der Unterscheidung und der Verbindung praktizierte. Trotz aller Popularität gibt es immer noch keine kritische Werkausgabe. Die aber wäre gerade dringend vonnöten, um das, was sie zur Verbindung der Disziplinen und Kontinente gedacht und getan und bewirkt hat, zusammenzuführen und miteinander der Öffentlichkeit hüben wie drüben bekanntzumachen. Eine kritische Werkausgabe, die wie Hannah Arendt selber in mindestens zwei Sprachen zu Hause ist – und in zwei Kontinenten. Wann endlich wird diese Ausgabe die notwendigen finanziellen Zuwendungen erhalten?

Marie Luise Knott ist Redakteurin der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique und arbeitet am Internetforum www.hannaharendt.net mit. Gemeinsam mit Barbara Hahn hat sie die Ausstellung „Hannah Arendt: Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit“ kuratiert, die am 8. Dezember 2006 im Literaturhaus Berlin eröffnet