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: Letzte Ausfahrt Nottuln. Berichte eines genussfreudigen Rennradlers

RAD-WAHN Ulf Henning: „Dicker Mann auf dünnen Reifen. Mein neues Leben als Rennradfahrer“. Bielefeld, 12,80 €

Die Midlife-Crisis des Mannes ist eine feine Sache. Denn sie setzt – nach einer Phase der inneren Einkehr, Selbstgeißelung und Verzweiflung – ungeahnte Kräfte frei. Aus Freunden der Schlachteplatte werden eingefleischte Vegetarier, aus schmerbäuchigen Bewegungsmuffeln, die Winston Churchill („No Sports“) für einen verdammt klugen Kopf halten, werden urplötzlich Marathonläufer, Asketen, Kalorienzähler. Die Wandlung vollzieht sich urplötzlich. Niemand kann die Bekehrten aufhalten. Kurzum: Aus der Krise erwächst ein Wahn.

Ulf Henning ist kein Marathonläufer geworden, dafür hat er auch nicht die Statur, wie in seinem Erfahrungsbericht „Dicker Mann auf dünnen Reifen“ zu erfahren ist, aber für einen Übertritt in die Religionsgemeinschaft der Rennradfahrer hat es immerhin gereicht. Henning ist um die 40, wiegt (anfangs) 110 Kilogramm, hat eine Familie, zwei Kinder, trinkt jeden Abend ordentlich Alkohol (eine Flasche Wein ist ein Klacks), er raucht – und weiß, dass sich etwas ändern muss in seinem Leben. Im Freundeskreis gibt es schon ein paar Rennradler. Die haben sich zum Münsterland-Giro angemeldet, einem Rennen für jedermann. Henning, laut Cavadonga-Verlag ein „Genussmensch“, kauft sich ein Rad für 400 Euro vom Kumpel und bezahlt die Startgebühr. Er will’s wissen. Fortan trainiert Henning – und führt auf rennrad-news.de ein Trainingstagebuch in locker-schnoddrigem Tonfall.

Ulf Henning ist EdHot. Und EdHot ist eine Novize auf dem Rennrad, ein blutiger Anfänger, der über die alten Ordensbrüder herzieht. Halb belustigt, halb hämisch ätzt er über die Schrullen der Rennradler, die ja bekanntlich einen an der Glocke haben. Erst einmal pflegen sie eine bizarre Geheimsprache. Begriffe wie Master X-Light, Dura Ace, Spacer, verchromte Muffen, Reynolds 531, horizontale Ausfallenden oder Systemlaufräder Bora sollte man schon draufhaben, um ernst genommen zu werden – und natürlich sollte man das richtige Rad reiten. Die Szene hat den Radaufbau extrem verwissenschaftlicht; nicht umsonst kommen Materialien aus der Weltraumforschung beim Rahmenbau und sonst wo am Gefährt zum Einsatz. Viele sind auf der Suche nach der reinen Lehre. Die einen dienen dem Götzen Shimano, die anderen sind Jünger von Campagnolo. All das lenkt von der schnöden Weisheit ab, dass am Ende nicht das Material, sondern nur die Beine über den Erfolg entscheiden. Oder etwa nicht?

Wie auch immer, es lässt sich vortrefflich streiten über die richtigen Komponenten am Rad, das mehr ein Lifestyle-Vehikel ist als ein Fitnessgerät, über den Rahmen, der nur noch 900 Gramm wiegt und die neueste Mode (Geht ein Shirt mit der Aufschrift „Stelvio“, wenn es vom einem Typen getragen wird, der noch nie in den Alpen radelte?). Wer jemals erlebt hat, wie ein High-End-Radler der Profikategorie mit gerümpfter Nase am eigenen rollenden Schrotthaufen vorbeizieht, der weiß um die ideologischen Grabenkämpfe in der Hohepriesterschaft der Rennradler. Ulf Henning geht wunderbar distanziert mit ihnen um, den radelnden Hagestolzen und all den „Fahrradnazis“, wie er sie nennt, die ihn im Forum beschimpfen und beargwöhnen. All seine Erfahrungen hat er nun zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Das Werk hat Längen, denn je mehr Meriten er sich erwirbt, desto eher flachen seine Berichte ab. Aus der selbstironischen Introspektion wird mehr und mehr ein konventionelles Trainingstagebuch mit Berichten darüber, wie wo und wann er mit wem herumgekurvt ist.

Verstehen wir uns nicht falsch: Henning hat ein unterhaltsames Buch geschrieben. Doch seine Wandlung vom Einsteiger zum anerkannten Gemeindemitglied geht nicht spurlos an EdHot vorbei: Er geht zusehends nachsichtiger mit den lieben Zweiradkollegen um. Aber das ist nur allzu menschlich, denn der Teilzeitbesessene, der auf 91 Kilo abmagert und zwischenzeitlich jede Kalorie misst, findet verständnisvolle Mitstreiter, die auch beseelt sind von der Aussicht auf Lebensoptimierung, ewiger Gesundheit und ultimativer Fitness.

Ulf Henning findet das Glück in der Lebensmitte hier und da, auf Ausfahrten im Eisregen und in den turmhohen Bergen des Münsterlandes zwischen Nottuln und Coesfeld. Wie aktuell zu erfahren ist, geht es EdHot leider nicht so gut. Beim Heben eines Wäschetrockners hat er sich den Rücken verrenkt. Oje, das kostet Trainingskilometer!

MARKUS VÖLKER