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DOKUMENTARTHEATER „Mein Bedarf an Krieg ist noch lange nicht gedeckt!“ Frank Abts „Geschichten von hier“ versammeln Ausschnitte aus Kriegstagebüchern und Interviews zum Zweiten Weltkrieg im Deutschen Theater
VON ANNE PETER
Großvater erzählt. Wie er als Fünfjähriger seinen Teddy beerdigte, mit Vaterunser und Deutschlandlied. Wie sein Vater, evangelischer Pfarrer und „halbjüdisch“, nach den Nürnberger Gesetzen 1936 entlassen wurde. Wie dieser als Seelsorger evangelische „Nichtarier“ betreute und ihnen Ausreisemöglichkeiten verschaffte. Wie er 1940 verhaftet wurde und ins Konzentrationslager Dachau kam und, als er krank wurde, abtransportiert wurde. Alles deutet darauf hin, dass ihn die Nazis in der Gaskammer einer österreichischen Vernichtungsanstalt ermordeten.
Wenn der Großvater tot ist, wird sich keiner mehr an die Lebensdetails des mutigen Urgroßvaters erinnern. „Einen, der die NS-Zeit selbst miterlebt hat, gibt’s dann nicht mehr.“ Verschmitzt spricht der Schauspieler Markwart Müller-Elmau diesen Satz und tippt mit den Fingerspitzen der rechten Hand neben dem Wasserglas auf das braun-weiß-karierte Tischtuch.
Wir befinden uns in dem Dokutheaterprojekt „Geschichten von hier IV: Was uns bleibt“ von Frank Abt, und unser Zuschauergrüppchen sitzt dem gespielten Zeitzeugen in der Statistengarderobe des Deutschen Theaters fast zum Greifen nah gegenüber – Schulklassenfeeling. Später gesellen sich noch Sohn (Matthias Neukirch) und Enkeltochter (Nils Rovira-Muñoz) dazu und diskutieren die Frage, wie das leuchtende Vorbild des Urgroßvaters die nachfolgenden Generationen geprägt hat, indem jeder auf seine Weise versuchte, ihm gerecht zu werden.
Unsere Mitzuschauer lauschen im Reinhardt-Zimmer oder in der Tischlerei gerade zwei anderen Familiengeschichten. Nach gemeinsamem Anfangsteil auf einer Hinterbühne hat man uns in drei Gruppen geteilt. Was wir hören, basiert auf Interviews mit realen Personen, die von Schauspielern gesprochen und von Abt als denkbar nüchterne Tischgespräche inszeniert werden. Ganz am Ende versammeln wir uns alle zur Suppe an langer Tafel, und jeder, der mag, kann sich mit dem Nachbarn über die jeweils anderen Geschichten austauschen.
Festzuhalten, was damals geschah, bevor die Dabeigewesenen unwiderruflich verschwanden, ist das Bestreben des Projekts. Es ist der vierte Teil von Abts Reihe von berlinfokussierten Interview-Stücken am Deutschen Theater. Mit dieser Bearbeitung des Zweiten Weltkriegs ist er nicht allein.
So viele Einzelschicksale wie möglich sammeln
Im aktuellen Spiegel wird unter dem Titel „Mein Vater, der Mörder“ Familienalbumfledderei betrieben. Und zum Berliner Theatertreffen im Mai ist das Projekt „Die letzten Zeugen“ vom Wiener Burgtheater geladen, in dem Schauspieler die Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden vortragen. Es gilt, so viele Einzelschicksalskrumen einzusammeln wie nur irgend möglich – um immer wieder zu zeigen, dass Geschichte von Menschen gemacht wird und es einen Unterschied macht, ob jemand mitläuft oder aufsteht.
Die DT-„Geschichten“ erzählen von den Tätern wie von den Opfern und schaffen das Erstaunliche: die Haltung beider Seiten nachvollziehbar zu machen. Mit Begeisterung mitgelaufen ist der ehemalige NS-Soldat und spätere schleswig-holsteinische CDU-Landtagsabgeordnete Wolfgang Weimar, aus dessen Kriegstagebuch die vier beteiligten Schauspielstudenten der Ernst-Busch-Schule im ersten, gemeinsamen Teil des Abends vorlesen. „Mein Bedarf an Krieg ist noch lange nicht gedeckt!“, ruft Nils Strunk und steht dabei in einem liebevoll drapierten Flohmarktsammelsurium aus Alltagsgegenständen aus der Großelternzeit – Uhren, Nähkästen, Teekannen. Schon ein bisschen erschreckend, wie sehr sein Vortrag in den Bann zu ziehen vermag, sodass man für Momente geneigt ist, der Front mit entgegenzufiebern.
Dieser Effekt stellt sich ein, weil sich Abt als Regisseur ganz zurücknimmt und sich jeden Kommentar versagt, nur dezent verdichtet, kaum zuspitzt. Er urteilt nicht, lässt das Material (Interviews: Dirk Schneider) weitgehend für sich sprechen. Seine Schauspieler betreiben minimalistisches, auf Kammerspielnähe ausgelegtes Als-ob-Spiel, in dem die Aneignung sowohl empathischer Akt des Sichhineinversetzens als auch der Verallgemeinerung bedeutet. Das breite Panorama, die Vielfalt der parallel laufenden Geschichten, steht dabei hinter der menschenwarmen Nähe des Einzelfalls zurück.
Spätestens wenn Wolfgang Weimar zum Kriegsende bedauert, dass man „eben von der Übermacht bezwungen“ wurde, man sich „als Volk keine Vorwürfe zu machen“ brauche, und darauf hofft, dass nachfolgende Generationen es mit der Errichtung eines Vierten Reiches einmal leichter haben werden, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Wie viele unserer Großeltern werden gedacht haben wie er? Wie viele von uns werden nie danach gefragt haben?
■ „Geschichten von hier IV: Was uns bleibt“. 18., 29. 4. um 20 Uhr im Deutschen Theater, 15., 24. 5. um 19.30 Uhr