: Zwei Seiten der Musik
Es ist vielleicht noch nicht entschieden genug darauf verwiesen worden, dass die Musik im MP3-Format zwar praktisch sein mag, damit aber doch weiter der Verlust eines elementaren Erkenntnisgewinns fortgeschrieben wird, wie er bereits mit der Einführung der CD zu beklagen war: dass nämlich alles seine zwei Seiten hat.
An diese Verarmung mag man sich gerade angesichts der gerade stattfindenden Woche des Plattenladens erinnern, weil doch an so einem Ort mit der Vinylschallplatte noch und wieder das Produkt zu finden ist, in dem dieses Prinzip aufgehoben ist. Beim Album und in seiner zugespitzten Form bei der Single, mit der es konzentriert heißt: Wer A sagt, muss auch B sagen. Weil das einfach das Wesen der Schallplatte ist, die eben zweiseitig funktioniert. Und damit schlicht der Platz da war, vorne auf der A-Seite für den Hit. Und rückseitig: machte man halt irgendwas drauf. So fand Hänsel immer seine Gretel. Das Lass-den-Kopf nicht-hängen-Lied „Hey Jude“ der Beatles war rückseitig gekontert mit „Revolution“. Die Single ist Schwarz und Weiß. These/Antithese. Das duale System.
Dagegen muss sich ein MP3-Download als Hänsel ohne die Gretel doch einsam fühlen.
Mit Singles aber öffnen sich Welten: Wenn man nur genug von den Platten umdreht, finden sich sogar bei der Schunkelproduktion des deutschen Schlagers genug an B-Seiten, die seine Geschichte als Soul-Geschichte schreiben lassen würden. Eine andere Seite der Medaille.
Beim Umtopfen im heimischen Plattenschrank wurde gerade ein schönes Beispiel dafür nach oben getrieben, eine Single von Wizzard, bei der die in den frühen Siebzigern besonders ausgeprägten Tendezen von Kinderpop und dem neuen Erwachsenenpop miteinander klarkommen müssen. Wizzard war ein Projekt von Roy Wood, der in den Sechzigern mit The Move („Flowers in the Rain“) unterwegs war und danach kurz mit dem Electric Light Orchestra. Dann eben Wizzard, und auf der Single hört man zuerst „See My Baby Jive“, ein überdrehter und absolut unterstufentauglicher Rock ’n’ Roll mit Kirmesstimmung. Prima Autoscooter-Musik. Das war der Hit. Umseitig dann „Bend Over Beethoven“, das die Unterstufe zutiefst verschrecken musste mit dem Jazz, dem Zappa-Geschnetzel und einem Avantgarde-Kammerrock, dem die musikalischen Ambitionen aus allen Ritzen drangen. Kinderpop und Kunstwillen. Hier hatte man den Januskopf der Siebziger. Zum Preis von einer Single. Toll.
Die Plattenladenwoche auch mit Berliner Beteiligung endet heute (www.plattenladenwoche.com). Man darf aber gern auch darüber hinaus in die Läden gehen. Und der große Roy Wood feiert am Montag seinen 64. Geburtstag. THOMAS MAUCH