: Gesellenbrief statt Doktortitel
AKADEMISIERUNG Die Politikberater des Wissenschaftsrats empfehlen eine Aufwertung der beruflichen Bildung. Zahl der Ausbildungsverträge in Deutschland sinkt weiter
AUS BERLIN ANNA LEHMANN
Deutschland braucht weniger Master, dafür mehr Meister. In die Debatte um die Aufwertung der beruflichen Bildung hat sich jetzt auch der Wissenschaftsrat eingeschaltet. Die professoralen Politikberater empfehlen, stärker für die berufliche Bildung zu werben und angehenden Abiturienten in der Oberstufe akademische und berufliche Ausbildungswege gleichberechtigt vorzustellen. Angesichts hoher Studienabbrecherquoten müsse man versuchen, die Zahl der Fehlentscheidungen der Studierenden zu senken, sagte der scheidende Vorsitzende des Gremiums, Wolfgang Marquardt.
Die Studienanfängerquote, also der Anteil derjenigen eines Jahrgangs, die anfangen zu studieren, ist in den vergangenen Jahren beständig gewachsen und beträgt derzeit über 40 Prozent. Grund ist, dass immer mehr junge Leute Abitur machen und studieren möchten.
Politisch ist das so gewollt, keine Partei vergaß in der Vergangenheit zu erwähnen, dass Deutschland mehr Akademiker brauche. Die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) kritisierte Deutschland stets dafür, im internationalen Vergleich zu wenig höher Qualifizierte hervorzubringen, und warnte vor ökonomischen Nachteilen.
„Die OECD hatte einen sehr engen Blick“, meint Marquardts Nachfolger Manfred Prenzel. Der Münchener Bildungsforscher leitete unter anderem die Pisa-Studien der OECD in Deutschland. Das duale Ausbildungssystem sei bewährt, neue Wege wie das duale Studium seien ein guter Weg in die Zukunft.
Zurück zu den Zeiten, als die deutliche Mehrheit der Schulabgänger eine Lehre machte, will der Wissenschaftsrat jedoch nicht. „Die Anforderungen in der Arbeitswelt sind gewachsen. Das gesamte Ausbildungsprofil wird sich verschieben in Richtung einer höheren Wissens- und Wissenschaftsorientierung“, meint Wolfgang Marquardt. Der Wissenschaftsrat will die berufliche Bildung deshalb mit der Aussicht auf ein späteres Studium wieder attraktiver machen. Ziel ist es, beruflich Qualifizierten den Zugang zu den Hochschulen zu erleichtern.
„Nicht jeder muss studieren“, argumentierte dagegen der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin am Wochenende auf dem taz.lab. Der Akademisierungswahn werte die berufliche Qualifizierung ab und schade dem Dualen Ausbildungssystem, sagte der einstige Kulturstaatsminister unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD).
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist dem aktuellen Ausbildungsreport zufolge im vergangen Jahr erneut gesunken, auf nunmehr 530.000. Die Zahl der nicht besetzen Stellen erreichte einen neuen Höchststand.
Kritik an der zu einseitigen Fixierung der Sozialdemokraten auf die Studienanfängerquote übt auch der SPD-Bundestagsabgeordnete und Experte für berufliche Bildung, Willi Brase. „Ich glaube, dass sich die SPD in der Vergangenheit zu stark auf die OECD-Studien berufen hat, wonach Deutschland mehr Studienanfänger braucht. Wir müssen die Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung betonen“, sagte Brase der taz.
Den Zahlen der OECD zufolge lohnt sich ein Studium stärker als eine Lehre. Akademisch Gebildete verdienten 2011 im Durchschnitt deutlich mehr als beruflich Qualifizierte. Allerdings schrumpfen die Unterschiede bei Abiturienten mit einer Berufsausbildung und Fortbildungen.
Jährlich unterschreiben bereits über 120.000 Abiturienten Ausbildungsverträge. Damit hat etwa ein Viertel der Azubis im ersten Lehrjahr eine Hochschulzugangsberechtigung. Umgekehrt beträgt der Anteil der Studienanfänger, die ohne Abitur an die Hochschulen gelangen, nicht einmal 2 Prozent.