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Archiv-Artikel

Haben und halten

Wo das Ich am Steuer sitzt: Mit markigen Statements zur mangelnden Willensstärke reagiert die deutsche Elite auf die Misere der in Armut lebenden Teile der Bevölkerung. Dabei verkennt ein solcher bedingungsloser Erfolgsgeist, dass auch Egoismus nur trägt, weil er gesellschaftlich eingebunden ist

Für Steingart, Poschardt und Beck wird die Individuation in der Karriere zum Maßstab ihres Menschenbildes

von CORD RIECHELMANN

Vor einigen Jahren erschien in der Titanic eine Karikatur, die einen bis auf die Knochen ausgemergelten, dunkelhäutigen Menschen zeigte. „Einfach mehr spachteln!“ hatte der Zeichner als Lösung zu diesem Hungerproblem in das Bild geschrieben. Auf eben dem Niveau, nur ohne jeden Witz, ist jetzt die Frage nach dem Willen des Menschen in die sogenannte Unterschichtendebatte zurückgekehrt. Dabei wird die alte philosophische Frage, ob der Wille des Menschen frei, prädestiniert oder determiniert sei, von allem Bildungsballast gereinigt auf den bloßen Besitzstand gebracht. Die unten sind, wollen nicht mehr nach oben, und die oben sind, wollen in die Welt hinaus.

Doch das klappt nicht, weil die unten nicht mitwollen. Spiegel-Redakteur Gabor Steingart sagt es in der FAZ so: „Die wichtigste, da knappste Ressource unserer Tage ist die Willenskraft. Ausgerechnet in jenem Land, das nach verlorenem Weltkrieg mit einem ökonomischen Wunder überraschte, kam es zu einer Entladung der mentalen Antriebskräfte. Seit Jahren wird auf Halten gespielt, nicht auf Sieg.“ Und Ulf Poschardt schreibt in der Welt: „Im Dienste einer vor Gemütlichkeit brütenden, den Menschen entwürdigenden Gerechtigkeitskultur und deren kreuzbiederer egalitärer Ästhetik wird der Dialog auch dort eingefordert, wo er sinn- und hoffnungslos geworden ist. Zwischen jenen Teilen der Gesellschaft, die wollen, und jenen, die sich selbst aufgegeben haben.“

In beiden Zitaten ist der Wille nicht mehr eine dialektisch gebrochene Kraft, die in ein und derselben Person mal Lähmungen oder Adrenalinentladungen hervorbringen kann. Er ist nur die Kraft nach vorn, zu Handlung und Macht. Neu ist das nicht, darin steckt natürlich Nietzsches Wille zur Macht, der sich nicht mehr aufhalten lässt durch das sklavische Gezauder des Gewissensbisses. Und damit wird es heikel bis heiß: Nietzsche war der erste Denker der Neuzeit, dessen Thesen die philosophische Sphäre auch soziologisch umfassend verlassen haben und in das ganze geistige, auch politische Leben eingedrungen sind. Seine Aphorismen werden zu Parolen. Mit den Wirkungen, die Parolen gewöhnlich haben: Man muss sie weder nachlesen noch wörtlich nehmen.

Denn wörtlich geht es bei Nietzsche folgendermaßen: „So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten, die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten.“ Nun wollen weder Poschardt noch Steingart als weltläufige Liberale, die sie sind, diesen Nietzsche wiederhaben. Signifikant an ihren und auch des SPD-Herren-Beck Willenstheoremen ist etwas anderes. Sie schließen die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Willensformierungen aus ihren Betrachtungen aus und machen sich so zu Herren im eigenen Haus. Bei ihnen sitzt das Ich am Steuer, sie sind die Meister ihres Erfolgs. Ihre Individuation in der Karriere wird ihnen zum Maßstab ihres Menschenbildes. Die vorindividuellen, abhängigen Teile ihrer Existenz, die das gesellschaftliche Individuum auch ausmachen, sind in ihrem Text suspendiert.

Nietzsche war die Möglichkeit dieses Trugschlusses bewusst, den man aus seinen peitschenden Kraftsätzen ziehen kann. So hat er den Erfolg als den „größten Lügner“ denunziert und in einem nachgelassenen Aphorismus abbittend geschrieben: „Alle tieferen Menschen sind darin einmüthig – es kommt Luther, Augustin, Paulus zum Bewußtsein –, daß unsere Moralität und deren Ereignisse nicht mit unserem bewußten Willen sich decken.“ Das heißt, es gibt Kräfte, die unseren bewussten Willen unterminieren, die verhindern, dass das Ich am Steuer sitzt.

Und diese Kräfte sind alles andere als ungreifbare metaphysische. Sie gehören konstitutiv zu jeder Ichformierung. Jacques Lacan hat das 1949 – noch unter dem Eindruck der Verheerungen der deutschen Willenshybris – in „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ entdeckt. Das Menschenjunge erkennt sich im Alter zwischen sechs und achtzehn Monaten erstmals im Spiegel selbst als ganze Person. Es begleitet diese Entdeckung oft mit jubilierenden Gesten, in dem es die Arme hochreißt oder das Bild greifen will.

Manchmal fällt es dabei – wenn die Betreuer nicht aufpassen – auf die Nase. Überhaupt erfolgt der Akt der Ich-Erkennung des Menschenjungen im Stadium totaler Abhängigkeit von der Nahrung der Eltern. Dazu ist es motorisch noch völlig unterentwickelt und sehr weit weg davon, selbstständig mobil zu sein. Der Moment der ekstatischen Ich-Erkennung durch die Aufnahme eines Bildes fällt mit der tatsächlichen totalen Lebenserhaltungsinkompetenz zusammen. Von da ab bleibt die Form des Körpers als Gestalt immer in einem Außerhalb. Dieses Außerhalb kann alles Mögliche sein: die Schule, die Gesellschaft, der Beruf. Die vermeintlich eigenen Optionen sind immer auch gesellschaftlich formiert.

Wenn nun aber ein so im Spiegel geformtes Ich mit seiner imaginierten Ganzheit vor die Zahlen tritt, die gerade sein Leben bestimmen, dann verliert es zu Recht die Lust am Willen zur Arbeit. Es ist nämlich so, dass 0,75 Prozent der globalen Arbeitskraft mehr als 25 Prozent der globalen Wirtschaftskraft vollziehen. Da muss wirklich nicht mehr jeder anpacken, eher schon werden sehr viele Menschen überflüssig für den Prozess der Reichtumsproduktion. Und wie man mit denen umgeht, das ist dann allerdings eine Frage, die den Rahmen der Willensdiskussion sprengt.