Die Sagan der Vorstädte

Heute ist sie Pendlerin zwischen zwei Planeten: Banlieue und Paris

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

„Wie im Zoo“ fühlt sich Faïza Guène, wenn Journalisten in ihr Viertel kommen. Sie für das Foto vor eine Betonwand stellen – „natürlich neben ein Graffiti“. Sie als „Französin algerischer Herkunft“ beschreiben. Die Sozialwohnung ihrer Familie sehen wollen. Und sie fragen: „Hast du sehr viele Geschwister?“ Wobei die Betonung auf „sehr“ liegt.

„Niemand würde einen weißen Schriftsteller in Paris nach der Herkunft der Eltern oder seiner Religion fragen“, sagt die 21-Jährige. Die junge Autorin hat gerade ihren zweiten Roman veröffentlicht. Pocht auf ihre republikanische Gleichheit. Findet den sozialen Unterschied wichtiger als den Einwanderungshintergrund: „Ich bin ein Kind von Arbeitern.“ Sie spricht im kollektiven Wir der Banlieue. Und nutzt ihre Berühmtheit, um alle möglichen Klischees zurechtzurücken.

Ein Jahr nach dem 27. Oktober 2005, als drei Jungen in Clichy-sous-Bois in der östlichen Banlieue von Paris vor der Polizei in ein elektrisches Umschalthäuschen flohen, wo zwei von ihnen zu Tode kamen, sagt Faïza Guène lakonisch: „Ausgangspunkt war ein Fehler der Polizei. So was passiert ständig.“ Sie kann verstehen, dass schon wenige Stunden danach – und dann drei ganze Wochen lang jede Nacht – Jungen in französischen Banlieues wüteten. Wobei 9.000 Autos ausbrannten und Bushaltestellen und Schulen zu Bruch gingen. „Verzweiflung“, Faïza erklärt sie: „Die Kleinen sind von der Realität überfordert. Das ist wie bei Leuten, die sich umbringen, wenn es ihnen schlecht geht.“ In Guènes Büchern sind Banlieusards liebevoll und mit Humor beschrieben. Auch „die Kleinen“ –, die Autos abfackeln.

Faïza Guène hat kindlich runde Wangen. Riesige braune Augen, die ihr Gegenüber verschlingen. Benutzt das kumpelhafte Du. Verlängert ihre Sätze mit Händen und Armen in der Luft. Und spricht in dem atemberaubenden Stakkato-Rhythmus der Vorstadtjugend. In diesem schnellen Französisch schreibt sie auch. Sie kritzelt auf Fahrkarten, wenn ihr etwas in der Métro einfällt. In ein Heftchen, wenn sie zu Hause ist. Erst am Schluss tippt sie alles in den Computer.

Die Romane von Faïza Guène lesen sich wie Rap. Für manche Literaturkritiker ist sie eine „Françoise Sagan der Banlieue“. Letztere hat ebenfalls mit 19 Jahren einen Bestseller geschrieben. „Bonjour Tristesse“ war das vor einem halben Jahrhundert. Darin tummelten sich Figuren in Saint Germain des Prés, dem Quartier, in dem Paris besonders schick und intellektuell ist.

Für Faïza Guène ist Paris ein fremder Planet geblieben. Ihr Zuhause liegt außerhalb der Stadtgrenze. Sie ist in Courtillières aufgewachsen, einer Vorstadt mit eilig und schmucklos gebauten Wohnsilos. Mit breiten, schnurgeraden Straßenschluchten, durch die der Wind pfeift. Ohne diese kleinen Geschäfte, ohne Kinos und ohne Geschichten, die einen Ort interessant machen. Journalisten verirren sich nur dorthin, wenn Autos in Flammen stehen.

Ihr Erstlingsroman, „Kiffe kiffe demain“ (Paradiesische Aussichten), verkaufte sich in Frankreich mehr als 230.000-mal, wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und steht in diesem Jahr auf dem Lehrplan der französischen Mittelschulen. Im August ist Faïza Guènes zweiter Roman erschienen. „Du rêve pour les oufs“ (sinngemäß: Träume für Verrückte) ist politischer als das erste Buch. Aber im Mittelpunkt steht wieder eine junge Frau in der Banlieue, die in der ersten Person aus ihrem Leben erzählt: von Arbeitsberatern und Aushilfsjobs. Von dem kleinen Bruder, der auf die schiefe Bahn gerät. Von dem Vater, der seit einem Sturz auf dem Bau behindert ist. Und von Cousinen, die schon in der Pubertät die Details ihrer Hochzeiten planen.

Über die Hauptstadt gibt es in der Banlieue feststehende Meinungen. „Bei uns glauben les petits, dass alle Pariser reich sind und Feinde“, sagt Faïza Guène lachend, „das ist Klassenkampf.“ Sie mag die Kleinen, „les petits“ – die 14- bis 15-Jährigen – „weil sie so direkt sind. Sagen, was sie denken“. Als sie selbst klein war, fuhr Faïza Guène nie in das drei Métro-Stationen entfernte Paris. Heute hätte sie genügend Geld, um dort zu wohnen. Aber sie bleibt bei den Eltern in Courtillières: „Weil das in meinem Alter normal ist. Und um die Füße auf dem Boden zu halten.“

Ein Jahr nach dem großen Knall sagt Faïza Guène: „Die meisten Menschen in der Banlieue stehen morgens auf und gehen zur Arbeit. Das ist normal.“ Sie beschreibt Alltag. Und stemmt sich mit Wucht gegen die Klischees, die nur zwei Sorten von Banlieusards zulassen: den „voyou“ – den Kleinkriminellen, der Angst macht und bis in die dritte Generation ein „Immigrant“ bleibt. Und den Überflieger, dem das ganze Land zu Füßen liegt und der als „perfekter Franzose“ gilt. Die zweite Gruppe ist viel kleiner. Zu ihr gehört Zidane, der Fußballer. Und neuerdings auch Faïza Guène – die Schriftstellerin.

Dass sie es geschafft hat, verdankt sie einem Lehrer, dem die Texte der damals 13-Jährigen auffielen. Boris Seguin arbeitet in einer Stadtteilinitiative in Courtillières. Er ermunterte das Mädchen weiterzuschreiben. Und brachte ihr erstes Manuskript zu einem Verlag. „Das Wichtigste war sein Vertrauen“, sagt Faïza Guène heute: „In der Banlieue werden wir notorisch unterschätzt.“ Wenn sie heute 14- und 15-Jährige nach ihren Berufswünschen fragt, antworten die Jungen „Mechaniker“ und die Mädchen „Friseurin“. Schreiben ist für Banlieusards nicht vorgesehen. Aber Faïza Guène hofft, dass ihr Erfolg auch anderen eine Türe öffnet.

Sie ist in den 80ern zur Welt gekommen und mit der Krise der Banlieue aufgewachsen. Gleich nach der Generation, die an die republikanische Gleichheit geglaubt hat. „Sie waren enthusiastisch und von Mitterrand überzeugt“, sagt Faïza Guène. „Wir sind unpolitisch. Wir haben gespürt, dass wir verarscht werden. Dass ein Graben klafft zwischen der Theorie, wonach wir Kinder der Republik sind, und unserer Realität.“

Von den von der Regierung versprochenen Verbesserungen seit der Randale im vergangenen Herbst hat Faïza Guène nichts gespürt: „Nicht das Geringste.“ Sie befürchtet, dass bis zu den Präsidentschaftswahlen im Mai „alles noch schlimmer wird“. Dass noch mehr Polizisten auftauchen, dass noch mehr beleidigende Worte gegen Banlieusards fallen werden. „Damit machen Sarkozy und die anderen schließlich Politik“, sagt sie, „wie 2002.“ Damals hatte der Rechtsextreme Le Pen die angeblichen Gefahren aus den Vorstädten in den Vordergrund seiner Kampagne gestellt. Und wurde zweitstärkster Kandidat. In jenen Tagen nahm die 17-jährige Faïza Guène an ihrer ersten Demonstration teil.

Heute ist sie Pendlerin zwischen zwei Planeten: Banlieue und Paris. Die Aufenthalte in Paris helfen ihr „zu mehr Distanz“. Aber zugehörig fühlt sie sich nicht. Die Pariser Schriftsteller empfindet sie als „geschlossene Kreise, die einen Geheimcode sprechen“. Als eitel und formverliebt. Sie schüttelt sich vor Lachen, als sie von einem erzählt, der über sein eigenes Buch sagt: „Hinter jedem Komma steckt ein Stück meiner Seele.“

In Faïza Guènes Büchern geht es um konkrete Dinge, die sie um sich herum beobachtet. Die knappen, bildreichen Sätze kommen aus dem Arabischen. Ihre zweite Sprache, die sie mit der Mutter in der Küche benutzt, und bei Sommerurlauben bei den Verwandten in Algerien. Mit ihr bricht eine neue Generation in die bürgerliche Geborgenheit von Saint Germain des Prés ein. Und eine neue soziale Wucht. Faïza Guène will nicht die Vorurteile der weißen Mehrheitsgesellschaft akzeptieren. Der Islam ist für sie „die Religion, in der ich gelernt habe, dass Jungen und Mädchen gleich sind“. Die viel beklagten brutalen Geschlechterverhältnisse in der Banlieue hat sie nicht erlebt: „Ich habe nie Probleme mit Jungen gehabt.“ Und über die Chancengleichheit stellt sie klar, dass Jungen aus der Banlieue es noch schwerer haben als Mädchen: „Sie werden wie wilde Tiere beäugt. Voller Angst. Mädchen hingegen begegnen vielen weißen Franzosen mit Mitleid und väterlichen Gefühlen.“

Wenn Faïza Guène etwas in der Politik zu sagen hätte, würde sie „mehr Lehrer und weniger Polizisten“ in die Banlieue schicken. Aber so, wie die Dinge gegenwärtig stehen, ist sicher, „dass es wieder knallen wird“. Weil kein einziges Problem gelöst ist. Und weil in Frankreich zu viel geschwiegen wird. Über die Großväter, „die für Frankreich gekämpft haben“. Über die Folter im Algerienkrieg. Und über den Arzt, der ihre Mutter bei der Konsultation kein einziges Mal anschaut: „Weil sie Araberin ist?“, fragt Faïza Guène, „weil sie ein Kopftuch trägt?“

In Courtillières ermuntern Nachbarn sie zum Schreiben. Manche haben nie ein Buch bis zu Ende gelesen. Bei Faïza finden sie eine Sprache, die sie kennen. „Es ist wahr, was du schreibst“, hat ihr kürzlich ein „Kleiner“ gesagt. Das findet Faïza Guène „krass“.