: Der verratene Kanzler
Schröder könnte noch im Amt sein – wenn die Linke nicht wäre. Schreibt Schröder. Und versteht nicht, warum die Hartz-Gesetze so unbeliebt sind
VON STEFAN REINECKE
Im Februar 2004 fasst Gerhard Schröder einen Entschluss. Er wird den SPD-Parteivorsitz an Franz Müntefering abgeben. In der verunsicherten SPD rumort es gegen Schröders Agenda 2010. Müntefering, der damals als Mann der Partei gilt, soll für Ruhe an dieser Front sorgen. Die Operation soll ein medialer Coup werden. Nur Schröder & Müntefering wissen davon, selbst die Vizeparteivorsitzenden ahnen nicht, dass ihnen Schröder am 6. Februar einen neuen Chef präsentieren werden.
Am Abend des 5. Februar trifft Schröder Wolfgang Clement, seinem Freund, Vizeparteichef und treuen Mitkämpfer um die Agenda 2010. Auch Clement sagt Schröder kein Wort über den Wechsel an der Parteispitze. „Ich wollte den Überraschungseffekt nicht aufs Spiel setzen und nahm dafür die Verstimmung von Wolfgang in Kauf.“ So schreibt es Schröder in seiner politischen Biografie „Entscheidungen“.
Überraschungseffekt ist ein Schlüsselwort in diesem Text. Kein anderer Begriff beschreibt Schröders politischen Stil genauer, der stets auf Verblüffung und Überrumpelung zielte. Dramaturgie geht vor Inhalt – oder, wie bei Clement, vor Loyalität. Die Agenda 2010, die Generalreform des deutschen Sozialstaats und das Kernstück seiner Innenpolitik, präsentierte Schröder 2003 einer sprachlosen und überraschten Partei. Auch die Ankündigung von Neuwahlen 2005 war ein einsam gefällter Entschluss, ein dramaturgischer Knalleffekt, der bekanntlich Schröders politische Karriere beendete.
„Entscheidungen“ sind keine klassischen, aus zeitlichem Abstand geschriebenen Kanzler-Memoiren. Sie sind eher eine ziemlich flotte Rechtfertigungsschrift, allerdings mit vielen Leerstellen. So wiederholt Schröder die bekannten Argumente, warum nach der verlorenen NRW-Wahl 2005 unbedingt Neuwahlen hermussten. Dies sei „staatspolitisch ohne Alternative und notwendig für das Überleben der SPD“ gewesen, heißt es in donnerndem Ton. Sogar den Verfall der Demokratie sah er am Horizont aufziehen. Er habe keine Mehrheit für seine Politik gehabt, die SPD hätte ihn sonst zum Rücktritt gezwungen.
Doch die Hoffnung, hier endlich zu erfahren, wer damals an Schröders Stuhl sägte, wird enttäuscht. Alles bleibt vage und ahnungsvoll, konkrete Belege – Fehlanzeige. Im Mai 2005 drohte, anders als Schröder es fantasiert, kein staatspolitischer Notstand. Die Wahrheit ist eher, dass der Agenda-Kanzler, nach einem Dutzend verlorener Landtagswahlen, den Glauben an die eigenen Durchhalteparolen verloren hatte. Und da blieb nur der gewohnte Ausweg – die effektvoll inszenierte Überraschung.
In diesen Memoiren geht ein Gespenst um – die SPD-Linke. Diese offenbar fast übermächtige Gruppe ist schuld an Schröders Scheitern. Sie hat mit ihrer unbegründeten Kritik an den Hartz-Gesetzen die „SPD-Kernwähler“ verunsichert. Die SPD-Linke, so Schröder, hätte ihn 2004 auch zum Rücktritt vom Parteivorsitz „gezwungen“.
Zu Schröders Feinden zählen auch SPD-Parteifunktionäre. Doch die wahren Bösewichter sind der IG-Metall-Chef Jürgen Peters und der Ver.di-Chef Frank Bsirske, die „systematisch auf meinen Sturz hinarbeiten“. Schröders Ton ist meist freundlich und erzählend – nur wenn von SPD- und Gewerkschaftsmitgliedern die Rede ist, die die Hartz-Gesetze nicht befürworteten, wird er unversöhnlich. Darin scheint ein vordemokratisches Bild von Politik durch: Es gibt den Führer, der die verunsicherte Basis schon zu überzeugen wüsste, wenn ihm nicht miesepetrige Funktionäre das Leben schwer machen würden.
„Dass auch eigene Fehler eine Rolle spielten, will ich nicht bestreiten“, schreibt Schröder. Doch dies bleibt ein uneingelöstes Versprechen. Während Schröder Parteivorsitzender war, kehrten fast ein Viertel der SPD-Mitglieder der Partei den Rücken. Warum? Folgt man Schröder, sind sie den haltlosen Suggestionen der SPD-Linken erlegen. Ohne Bsirske, Peters & die SPD-Linke wäre alles rund gelaufen. Schröder wäre noch immer Kanzler und Hartz IV ein allgemein geschätzter Reformerfolg.
In diesem Selbstbild zeigt sich ein Realitätsverlust, der nicht untypisch für Spitzenpolitiker ist. Die Wirklichkeit schrumpft auf Machtspiele zusammen, hinter denen die soziale Realität verblasst. So bescherten in Schröders Sicht nicht die durch Hartz IV ausgelösten handfesten Verarmungsängste der SPD eine Wahlniederlage nach der anderen – schuld war eine sinistre, stets übellaunige Linke. Dass diese SPD-Linke seit Lafontaines Rückzug 1999 nur noch ein Torso ist, fehlt in den Betrachtungen des Exkanzlers praktischerweise.
2003 hat Schröder die Agenda 2010 aus dem Hut gezaubert – es stand weder im Wahlprogramm noch im Koalitionsvertrag. Schröder schreibt dazu, dass er zuvor oft genug gesagt hatte, dass Reform nötig sind. „Wer hören wollte, konnte hören. Wer nicht gehört hat, der wollte nicht.“
Die Agenda 2010 hat die SPD so massiv verändert wie nichts seit dem Godesberger Programm 1959. Kann es sein, dass Schröder weniger an der fantasierten mächtigen Linken als an seiner eigenen Wurstigkeit in Identitätsfragen gescheitert ist?
Schröder sieht das selbstverständlich anders. Er schreibt: „Die mir in der Öffentlichkeit häufig unterstellte fehlende emotionale Bindung zur SPD ist angesichts meiner Biografie nicht nachvollziehbar.“ Ein bemerkenswert staksiger Satz, in einem ansonsten flüssig geschriebenen Text. Er soll wohl heißen: Ich bin Sozialdemokrat. Doch diesen Satz bringt Schröder nur verklausuliert bis zur Unkenntlichkeit zu Papier.