piwik no script img

Archiv-Artikel

Bayerische Gemeinden fliehen Freistaat

Die Geschichte steht kopf: Oberfränkische Dörfer aus dem früheren Zonenrandgebiet wollen rübermachen in die ehemalige DDR. Denn in Thüringen sprudeln die Fördertöpfe noch. Von der bayerischen Staatsregierung fühlen sie sich im Stich gelassen

„Die Geschäfte schließen, und unsere Schule hat nur noch vier Klassen“

AUS NORDHALBEN MICHAEL BARTSCH

Im bayerischen Fernsehen bekannten sich Bürgermeister Josef Daum und zwei seiner fränkischen Amtskollegen schon zur Thüringer Landesfahne. Sie schwenkten sie auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, jetzt die Landesgrenze Bayern –Thüringen. Nordhalben in Oberfranken und die Nachbargemeinden Steinwiesen, Wallenfels und Marktrodach wollen das bayerische Paradies verlassen und nach Thüringen wechseln. Seit der Wiedervereinigung fühlen sich die Zonenrandgemeinden im Stich gelassen. Im Nachbarland greift die großzügige Förderung für Ostdeutschland, sie aber bekommen nichts mehr aus dem Topf der Zuschüsse fürs ehemalige Zonenrandgebiet.

Heruntergekommen wirkt Nordhalben nicht. Aber die 60 leer stehenden Häuser machen sich in der um ein Viertel auf 2.000 Einwohner geschrumpften Gemeinde schon bemerkbar. An einem Mittwoch um die Mittagszeit hat nicht eine einzige Gaststätte geöffnet. Unter der Überschrift „Nordhalben – so geht’s nicht weiter!“ lädt das Plakat einer Bürgerinitiative für diesen Freitag zu einer Einwohnerversammlung ein. „Es ist eigentlich schon viel zu spät“, kommentieren die Bürger auf der Straße. „Die Geschäfte schließen, und unsere Schule hat nur noch vier Klassen.“

Was CSU-Bürgermeister Daum berichtet, klingt eher nach einer an Schwindsucht leidenden ostdeutschen Gemeinde. Die ansässige Großbäckerei bäckt ihre Brötchen bereits in Thüringen. Gleiches gilt für den Autozulieferer Politec, der in Nordhalben schon einmal einen Bauantrag gestellt hatte, dann aber der Versuchung von 12 Millionen Aufbau-Ost-Fördermitteln erlag. Die Förderbedingungen sind einfach zu unterschiedlich. Liegt der Maximalzuschuss im Westen bei 16 Prozent der Investition, sind es in Thüringen satte 48 Prozent. Gab es vor der deutschen Einheit 900 Arbeitsplätze am Ort, sind es jetzt noch 600. Wo Arbeitskräfte in den nahen Osten mitgenommen wurden, gingen den Oberfranken zwar nicht die Einkommen, wohl aber die Steuern verloren.

„Etwa 1995 setzte die finanzpolitische Wende ein“, erinnert sich Daum. Bis dahin konnte Nordhalben seinen Verwaltungshaushalt zu 70 Prozent aus Steuern decken. Heute sind es noch 40 Prozent, sodass wegen laufender Ausgaben auf jedem Einwohner 3.000 Euro Gemeindeschulden lasten. Die dringende Sanierung der aus dem Jahre 1907 stammenden Kanalisation ist nicht finanzierbar.

Der Bürgermeister weiß freilich genau wie die bayerische Staatsregierung, dass die Landflucht nur mit Zustimmung der Münchner möglich wäre. „Es ist klar, dass wir nicht wechseln können“, sagt er. Im Thüringer Innenministerium sind denn auch keinerlei offizielle Anfragen eingegangen. Aber mindestens als „Hilfeschrei“ will Daum dieses Signal schon verstanden wissen.

Denn der eigentliche Adressat sitzt in München. „Uns reicht es, und wir wollen nicht nur jammern!“ Es geht ihm nicht nur um einen Ersatz für die frühere Zonenrandförderung, sondern um Ungerechtigkeiten im kommunalen Finanzausgleich. Der Bürgermeister rechnet vor, dass ein Münchner mit 184 Euro, ein Kronacher noch mit 41 Euro, ein Nordhalbener aber nur mit 3 Euro davon profitiere. Seiner Kritik hat sich der bayerische Gemeindetag angeschlossen. „Sonst gehen nach und nach in Teilen Bayerns die Lichter aus“, sagte Verbandschef Uwe Brandl. Wirtschaftsminister Erwin Huber (CSU) erwiderte hingegen arrogant, die angebliche Vernachlässigung der Region entbehre jeder Grundlage.

Bürgermeister Daum will nicht neidisch auf Thüringen sein. Es räche sich aber, das der geplante gemeinsame Förderkorridor entlang der früheren Zonengrenze nicht zustande kam. „Wir haben nach 1990 gedacht, es geht nun mit der gemeinsamen Region bergauf. Aber die Mauer in den Köpfen war schnell wieder da.“ Das symbolische Ansinnen der Oberfranken stellt die Geschichte auf den Kopf. 1990 noch wollte das thüringische Titschendorf um jeden Preis nach Bayern wechseln. Und das sächsische Vogtland konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, sich der Region Hof anzuschließen.