: Fürchterliche Höhlen
Vor 200 Jahren wurde der Hamburger Dom abgerissen. Die Öffentlichkeit nahm das widerspruchslos hin: Es entsprach dem Zeitgeist, mit dem „finsteren Mittelalter“ nichts mehr zu tun haben zu wollen
VON GERNOT KNÖDLER
In den letzten Julitagen des Jahres 1804 bemächtigte sich der Pöbel des Hamburger Doms. Durch Zeitungsberichte über den bevorstehenden Abriss angelockt, rottete er sich am hellichten Tage in der unverschlossenen und unbewachten Kirche zusammen und randalierte. Plünderer erbrachen die Türen zum Archiv über dem Chor. Sie zerrten jahrhundertealte Urkunden aus den Truhen und zerstreuten sie auf dem Boden. „Gassenbuben liefen mit den geraubten Pergamenten auf den Kirchhof und verkauften sie für einige Schillinge; aus den Siegeln wurden Lichter gegossen.“
Diese Episode, die der Domherr Friedrich Johann Lorenz Meyer schildert, ist symptomatisch für die pietätlose Art, mit der sich die Reichsstadt Hamburg ihrer ältesten Kirche entledigte. Der Dom war im 9. Jahrhundert von St. Ansgar, dem Missionar Norddeutschlands, gegründet worden. Seiner hölzernen Kirche folgte ein steinerner Bau und im 13. Jahrhundert eine Backsteinbasilika, die über mehr als 500 Jahre hinweg das Zentrum Hamburgs prägte. Trotzdem war über das Für und Wider des Abbruchs in den vielen Zeitungen kein Wort zu lesen, wie der Kirchenhistoriker Peter Schmidt-Eppendorf kürzlich vortrug: Der Abriss vollzog sich ohne öffentliche Debatte.
Der Vorgang ist aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber keineswegs selten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rissen die Hamburger drei weitere alte Kirchen nieder, auch als sich bereits Protest zu regen begann. In Husum ließ 1810 der Rat die spätgotische Marienkirche am Markt abreißen. 1819 verfügte der Goslarer Rat den Abbruch der kaiserlichen Stiftskirche St. Simon und St. Judas aus dem 11. Jahrhundert. Geblieben ist allein die kleine Domvorhalle – und ein riesiger Parkplatz gegenüber der Kaiserpfalz. Die Kirche war baufällig und in der Stadtkasse fand sich kein Geld für eine Sanierung.
„Der Hamburger Dom war nicht baufällig, aber verwahrlost“, sagt Schmidt-Eppendorf. Ein Reisender habe schon im 17. Jahrhundert von einer Kanzel voller Spinnweben und Stühlen „voll unflates, staubes und alte lumpen“ berichtet. Im 18. Jahrhundert lag auf dem Denkmal von Papst Benedikt V. soviel Staub und Dreck, dass dessen Farbe nicht zu erkennen war.
Dieser Zustand passte aufs trefflichste zum aufklärerischen Zeitgeist, der in den alten Kirchen Relikte eines als finster empfundenen Mittelalters erkannte. Der Balte Garlieb Helwig Merkel sah in ihnen „ungeheure, dunkle, fürchterliche Höhlen, die Schaudern einflößen“. Die Herrschaft von Bischof und Landesherr habe „mit dem hamburgischen Staat nichts gemein, war und ist vom Geist seiner Verfassung so verschieden, als der tote Moder des verfallenen Domgemäuers von dem lebendigem Gewühle der Stadt absticht“, schrieb der Schriftsteller Jonas Ludwig Heß 1792, zur Zeit der französischen Revolution.
Hier kommt eine politische Note ins Spiel: Der Dom, obgleich seit Jahrhunderten evangelisch, bildete seit dem 30-jährigen Krieg eine Enklave in der Reichsstadt. Zunächst unter dänischer, dann schwedischer, schließlich kurfürstlich-hannoverschen Herrschaft, war der Dombezirk ein Pfahl im Fleisch der hamburgischen Selbstverwaltung. Hier wurden Schriften gedruckt, die der Hamburger Rat zensiert hatte, hier kamen Steuerflüchter unter.
Mit der von Napoleon verfügten Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kam der Dombezirk 1803 unter Hamburger Herrschaft. Kurz danach habe der Rat schon den Wunsch geäußert, den Dom abzureißen, berichtet Joist Grolle in einem einschlägigen Aufsatz in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte. Auf diese Weise ließen sich Unterhaltungskosten sparen. Durch Verkauf der Abbruchmasse war sogar ein Gewinn zu erwarten.
Das Domkapitel machte es dem Rat leicht. Den verbliebenen drei Domherren lag mehr an ihrer Pfründe als an dem Gotteshaus. Sie ließen sich vom Rat mit einer Pension abfinden. Bereits 1784 hatten sie auf Geheiß aus Hannover die Dombibliothek verschleudert. „Damit war nicht nur ein erster Schritt zum Ausverkauf getan, sondern auch ein Band durchschnitten, das bisher Dom und Stadt verbunden hatte“, kommentiert Grolle.
Die Domherren ließen die Häuser im Dombezirk verfallen. 1790 sparten sie die Stelle des Dompredigers ein. Die Predigten wurden fortan von Kandidaten der Theologie gehalten. Der Dom, dessen Gottesdienste ohnehin nicht viel Zulauf hatten, leerte sich. „Der gemeindelose Dom wurde zur Kirche ohne Auftrag“, schreibt Grolle.
Typisch ist der Abgesang des Domherrn Meyer. Er verweist auf „die Vorteile, welche für den Staat, bei der jetzigen Beengung der Stadt, und dem daraus entstehenden Mangel an freien und Bauplätzen, aus der Wegräumung des kolossalen, an sich nutzlose, Kirchengebäudes zur Benutzung entstehen werden“.
Immerhin erlaubt er sich ein wenig Wehmut, die uns einen Blick ins Innere tun lässt: „Unter den von der Zeit geschwärzten Gewölben schweben über unbekannten Gräbern alter Krieger und adlicher Geschlechter, an morschen Fahnenstangen zerlappte Trophäen; hoch an einigen Pfeilern hängen Rüstungen, Schwerter, Lanzen, Helme, Wappen und Kampfschilder. Wer trug sie einst?“
Der Abschied vom Dom begann mit einer „bis zur Rührung und Erbauung hinreißenden Predigt“ im Juni 1804. Den Ratsbeschluss zum Abbruch erwähnen die Hamb. Adreß-Comtoir-Nachrichten beiläufig am 26. Juli 1804. Zuerst müssen die Gräber im Dombezirk aufgehoben werden. Die Gebeine von rund 25.000 Toten werden in Fässern vor das Dammtor geschafft.
Ab Ende 1804 lässt sich der Abriss anhand von Auktionsanzeigen verfolgen. Versteigert wurden Abbruchlose, die im Voraus zu bezahlen waren. Unter den Hammer kam fast der komplette Dom – vom Messgewand über den Dachsparren bis zum Ziegelgrus, der 1807 zum Deichbau abgefahren wurde. Wenige geistliche Kunstwerke bildeten eine Ausnahme: eine Statue des Heiligen Ansgar, zwei Grabtafeln, sowie ein paar Altäre und Bilder gingen an die Stadtbibliothek und andere Kirchen. Die Gemälde, unter anderem die Flügel des Hauptaltars, überließ der Rat dem Kunstmaler Friedrich Ludwig Heinrich Waagen. Die Altarflügel sind heute in Warschau.
Mit dem Dom wurde auch dessen Anbau, der „Schappendom“ abgerissen, in dem der Weihnachtsmarkt abgehalten wurde. Aus Pietätsgründen habe der Senat es abgelehnt, den Dom-Markt in der Ruine auszurichten, sagt Schmidt-Eppendorf. Der Christmarkt wanderte schließlich auf das Heiligengeistfeld, wo er sich in ein Volksfest verwandelte. Es heißt bis heute „Hamburger Dom“.