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Archiv-Artikel

Der Seele der Dinge nahe

WIEDERENTDECKT Die Verbindung von Spiritualität und Erotik wird selten so fassbar wie in der grandiosen Ausstellung des amerikanischen Malers Marsden Harley in der Neuen Nationalgalerie

VON OLIVER KOERNER VON GUSTORF

Marsden Hartley schien alles andere als ein ganzer Kerl. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen Fotografien von ihm einen sensiblen, segelohrigen Außenseiter. Sein melancholischer Blick richtet sich nie in die Welt, sondern nach innen oder in eine unbekannte Ferne. An einen Baum gelehnt in Neuengland, auf der Überfahrt nach Europa, als juwelenbehangener Mohr auf einem Kostümball in Paris, wo er 1912 mit der Unterstützung reicher New Yorker Sammlerinnen und dem Geist von Waldo Emerson und Walt Whitman im Gepäck eintrifft – immer wirkt der amerikanische Maler wie ein Mann, der sich in seiner Rolle nicht zurechtfindet.

Bereits im Dunstkreis von Alfred Stieglitz’ Avantgarde-Galerie 291 lernt er 1911 in New York die Werke von Picasso und Cezanne kennen und beginnt mit dem Kubismus zu experimentieren. Doch die Ankunft in Europa wird zu einem Erweckungserlebnis. In Paris wird der 36-Jährige nicht nur in die Ateliers der Kubisten und den Salon von Gertrude Stein eingeführt.

Reiter in Paradeuniform

Er lernt auch den Berliner Bildhauer Arnold Rönnebeck kennen und verliebt sich in dessen Cousin, den jungen preußischen Offizier Carl von Freyburg. Der ist alles, was Hartley nicht ist. „Lieber Herr Hartley, was halten Sie jetzt von mir? Bin ich nicht ein toller Bursche, wenn auch ziemlich ungewöhnlich?“, schreibt er auf ein Foto von sich als Reiter in Paradeuniform.

1913 folgt ihm Hartley nach Deutschland. Über ihre Beziehung gibt es kaum schriftliche Zeugnisse, sie hat keine Stimme. Das wilhelminische Berlin ist die schwule Hochburg Europas. Doch sexuelle Handlungen zwischen Männern sind strafbar. Schon zwei Jahre zuvor schrieb Hartley an Stieglitz: „Wir haben eine Zeichensprache – wir, die wir nahe an der großen Seele der Dinge leben – und wir sprechen mit Symbolen wie Blicken – Berührungen der Hand – oder der leisesten Gegenwart voneinander – die sprechen, wenn die Worte idiotisch an der Zunge kleben.“

Diese Verbindung zwischen Erotik und Spiritualität ist auch kennzeichnend für seine zwischen 1913 und 1915 entstandenen „deutschen Bilder“, die jetzt in einer grandiosen Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie zu sehen sind. Nach 100 Jahren kehren sie in jene „lebendige und ultramoderne“ Stadt zurück, in der Hartley nicht nur die Kinos, Cafés und Museen liebte, sondern vor allem die militärischen Rituale. Unter den Linden sieht er die Kürassiere der kaiserlichen Leibgarden paradieren: „ganz in Weiß – weiße, enganliegende Lederhosen, hohe glänzende Lackstiefel“. Ein Spektakel, das ihn an den amerikanischen Zirkus erinnerte, aber auch in wollüstige Spannung versetzt. In seinem „Portrait von Berlin“ (1913) erscheinen die Soldaten als archaische Krieger, die in die Sonne reiten. Vor ihnen ein silberner Buddha, über ihnen der achtstrahlige Stern, als okkultes Zeichen der Erneuerung. „Intuitive Abstraktionen“ nennt Hartley seine stark von Wassily Kandinsky beeinflusste Malerei, in der er alltägliche urbane Beobachtungen, Volkskunst, Militaria, indische und mittelalterliche Mystik zusammenfließen lässt.

Als Kandinsky, Franz Marc und der Galerist Herwarth Walden 1913 den „Ersten Deutschen Herbstsalon“ organisieren, ist Hartley mit fünf „mystischen Bildern“ vertreten. Seine Gemälde haben kaum mit der Realität des patriotischen Vorkriegsdeutschland zu tun. Sie gleichen eher einem inneren Bewusstseinsstrom. Aus Orden, Schulterklappen, Offiziershelmen, wehenden Fahnen zentrifugiert er geometrisch-flächige Kompositionen. Er eignet sich die Insignien preußischen Soldatentums als Fetische und magische Symbole an und lässt sie in seinem ekstatischen Paralleluniversum wie Sonnen erstrahlen – Zeichen der Sehnsucht nach Erfüllung, Liebe und Ganzheit. Im Sommer 1914 beginnt er, inspiriert von den Sammlungen völkerkundlicher Museen, indianische Motive in seine Bilder aufzunehmen, wo sie sich mit Reichsadler und Zeppelin paaren.

Als er kurz nach Anbruch des Ersten Weltkriegs die Nachricht erhält, dass von Freyburg gefallen ist, bestattet Hartley ihn in allen Ehren: in seiner Malerei. Auf der lebensgroßen, schwarz grundierten Leinwand sind der Körper des Freundes wie auch Hartleys Gefühle nur noch zu erahnen, begraben unter einem abstrakten Leichentuch aus Wimpeln, Tressen und Eisernem Kreuz. „Porträt eines deutschen Offiziers“ ist ein verschlüsseltes Denkmal, das erste einer Serie von Kriegs- und Trauerbildern, die bis 1915 entstehen, als Hartley gezwungen ist, zurück nach New York zu reisen.

Das Eiserne Kreuz bildet auch die architektonische Grundform der von Dieter Scholz kuratierten Ausstellung, die Pionierarbeit leistet. Nicht nur, weil sie Hartley, der in den USA schon längst als einer der ganz Großen der Moderne gilt, auch endlich in Europa würdigt. In der Zusammenführung seiner Berliner Bilder werden auch der Mut und die Kompromisslosigkeit sichtbar, mit der Hartley als „queerer“ Künstler seinen Mann gestanden hat.

■  Neue Nationalgalerie, bis 29. Juni, Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa + So 11–18 Uhr