: „Aufgeben akzeptiere ich nicht“
DER SUCHTMEDIZINER Chaim Jellinek hatte mit 13 seinen ersten Vollrausch und konsumierte Drogen, bis er 30 war. Heute behandelt er in seiner Neuköllner Praxis vor allem heroinabhängige Patienten mit Methadon. Jellinek wendet sich gegen eine Legalisierung von Drogen – und sagt zugleich, sie hätten schon mal sein Leben gerettet
■ Der Mensch: Chaim Jellinek wurde 1956 in Berlin geboren. Nach Kindheit und Jugend in Wiesbaden kehrte er 1977 nach Berlin zurück. In den Achtzigern war Jellinek Teil der Hausbesetzerszene. In den Neunzigern ist er zum Judentum konvertiert und hat einen jüdischen Namen angenommen. Er wohnt mit seiner Familie in Mitte.
■ Der Beruf: Jellinek hat in Berlin Medizin und Health Management studiert. Seit über 20 Jahren arbeitet er mit Schwerstabhängigen. In seiner Neuköllner Praxis behandelt er seit 2000 vor allem heroinabhängige Patienten mit Substituten wie Methadon. (mah)
INTERVIEW MANUELA HEIM FOTOS ROLF ZÖLLNER
taz: Herr Jellinek, Sie sind Arzt für Suchtkranke und waren jahrelang süchtig. Erzählen Sie mir etwas über sich, damit ich weiß, wo Sie herkommen.
Chaim Jellinek: Angefangen hat es in einem Nazi-Adenauer-Haushalt mit einem sehr gewalttätigen, kriegskaputten Vater und einer Mutter, die aus ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter nie herausgekommen ist. Dort hinein wurde ich geboren, ungeplant und ungewollt.
Das klingt wie der typische Beginn einer Drogenkarriere.
Ja, das passt auch. Ich hatte mit 13 meinen ersten Vollrausch und hab dabei gemerkt: Die Sonne geht auf. Da war das erste Mal das Gefühl von Ganzheit, von Zufriedenheit. Ich hatte etwas gefunden, das mir das Leben erträglich macht. Von da an hab ich so ziemlich alles ausprobiert, was zu der Zeit auf dem Markt war.
Zählen Sie mal auf …
Am Anfang Alkohol und Nikotin. Später habe ich mich zwischen der Hippieszene in einem Teehaus und so einer proll-politischen Szene in einer Rockerkneipe bewegt. In dem einen gab es Haschisch und Rohopium. In der anderen Alkohol und Speed.
Wie alt waren Sie da?
Sechzehn.
Der Preis für den Rausch war Ihnen egal?
Ziemlich. Aber ich war auch immer gespalten: zwischen Absturz und sehr viel Arbeit. Ich habe früh gemerkt, dass ich Arzt werden will. Nachdem ich erstaunlicherweise das Abitur geschafft habe, bin ich zum Sanitätsdienst der Bundeswehr, dann zurück nach Berlin und dort in die Krankenpflegeschule. Im Wintersemester 1980 hab ich dann angefangen zu studieren und in der ersten Veranstaltung die Leute kennengelernt, mit denen ich dann ein paar Wochen später das erste Haus besetzt habe.
Wo war das?
Dieffenbachstraße, gegenüber vom Urbankrankenhaus. Das war damals die Hochzeit der Besetzerszene. In der habe ich mich sehr intensiv und lange bewegt.
Und weiter Drogen konsumiert?
Alkohol, Kiffen, Speed – das volle Programm. Und nebenbei noch Geld verdienen auf der Intensivstation im Urban. Das war eine Zeit mit sehr wenig Schlaf. Das war aber auch die Zeit, in der mir eine Freundin sagte, dass sie mit mir nichts zu tun haben will, wenn ich weitersaufe. Für mich war das ein tiefer Einschnitt. Ich glaube, 1987 habe ich dann das erste Mal versucht aufzuhören.
Lassen Sie mich rechnen: Mit 29 Jahren und nach 16 Jahren Konsum haben Sie die erste Therapie gemacht?
Nee, aufgehört habe ich erst mal ohne jede Therapie. Aber dann fingen die Probleme erst an. Nach zwei Jahren ohne Drogen und mehreren Selbsthilfegruppen habe ich gemerkt, dass es nicht reicht, einfach nur nicht zu konsumieren.
Woran haben Sie das gemerkt?
Die Drogen hat mein Körper ohne jede Probleme mitgemacht. Aber mit der Abstinenz kam mein mangelndes Selbstvertrauen zum Vorschein, die Panikattacken kamen. Meine langjährige Männer-WG hatte mich rausgeschmissen, weil ich mich nicht mehr am Gemeinschaftsleben beteiligt habe. Also habe ich in einer winzigen Butze an der Oberbaumbrücke allein vor mich hinvegetiert. Versifft und verwahrlost. Die Arbeit im Krankenhaus war meine einzige Pause – da musste ich duschen, hatte meine Arbeitskleidung.
Warum kam kein Rückfall in die Drogen?
Weil ich wusste, dass das mein Ende gewesen wäre. Es gibt den sogenannten Rückfallschock. Das heißt, wenn einmal bewusst der Prozess der Abstinenz begonnen wurde, dann wird ein Rückfall als etwas Lebensbedrohliches erlebt.
Wussten Sie das aus dem Medizinstudium?
Im Studium lernt man dazu gar nichts. Das war eine Mischung aus Selbsterfahrung, den Erzählungen aus den Selbsthilfegruppen und einem Gefühl. In meiner ersten Therapie habe ich gemerkt, dass ich keine normale Kindheit hatte, sondern chronisches Gewaltopfer war. Da fing ich an, Dinge zu tun, die bewusst meiner Selbstachtung dienen.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel meinem Vater zu schreiben, dass ich ihm gern seine Misshandlungen zurückgeben möchte, weil die mit mir nichts zu tun haben. Drei Monate später habe ich 70 Seiten kopierte Aufzeichnungen von ihm bekommen, wie viel Geld ich ihn gekostet habe. Das hat mir die endgültige Trennung von ihm leicht gemacht.
Lebt Ihr Vater noch?
Ich bin seit vielen Jahren glückliche Vollwaise.
Wie ging es beruflich weiter?
Ich bin dann nach Hamburg und habe nach langer Suche schließlich als Leiter einer Therapieeinrichtung für Spritzdrogenabhängige angefangen und da ganz viel gelernt über medikamentenfreie Entzüge und Akupunktur bei Suchtkranken. Dass ich damals in der Arbeit mit Süchtigen gelandet bin, war vor allem Ausdruck eigener Stabilisierung. Ich war da selbst schon ein paar Jahre clean und trocken und habe mir zugetraut, so eine Arbeit zu machen.
Und dabei blieb es auch?
Ja, bis heute. Das letzte Jahr in Hamburg hab ich in einer Einrichtung für drogenabhängige Kinder und Jugendliche gearbeitet. Das war noch mal ein totaler Augenöffner. Das war ich, nur 15 Jahre früher. Zurück nach Berlin habe ich die ambulante Behandlung von Spritzdrogenabhängigen mit aufgebaut. Spätestens 1991 war dann klar, dass es eine Gruppe von Schwerstabhängigen gibt, die nicht in Allgemeinpraxen behandelt werden können. Die Kassenärztliche Vereinigung hat das dann die „nicht wartezimmerfähigen Patienten“ genannt.
Wer ist damit gemeint?
Diejenigen, die zu aggressiv für den normalen Praxisbetrieb sind, immer wieder Beikonsum haben und Maßnahmen abbrechen. Eine Kollegin und ich wurden damals jedenfalls ermächtigt, jeweils hundert Patienten in einer speziellen Praxis zu substituieren. Angefangen haben wir in der Yorckstraße in einer Minibutze. Später sind wir an der Möckernbrücke gelandet und dann schließlich hier in Neukölln.
Wie offen sind Sie in der ganzen Zeit mit Ihrer eigenen Drogenvergangenheit umgegangen?
Immer sehr offen.
Haben Sie das als Vorteil gesehen?
Ich habe in der Drogenhilfe die Erfahrung gemacht, dass das genauso ein Vorteil wie ein Nachteil sein kann. Weil die Verlockung so groß ist, den eigenen Weg als den einzig wahren den anderen überstülpen zu wollen.
Und wie ist das bei Ihnen?
Ich habe an mir selbst gelernt, dass Drogenkonsum nicht einfach ein schlechtes Benehmen ist, das man einstellt. Sondern dass jeder Suchtkranke einen sehr guten Grund hat, süchtig geworden zu sein. Und dass das Aufgeben dieses Suchtverhaltens einen hohen Preis fordert. Das zeigen allein schon die Selbstmordraten von Suchtkranken, die im ersten Jahr nach Abstinenz am höchsten sind.
Warum hat mancher genug Überlebenswille, um das zu schaffen?
Das ist total schwer zu beantworten. Ich weiß nach 20 Jahren Erfahrung nur, dass ich nie vorhersagen kann, wer es wie schafft.
Ist das spannend oder frustrierend?
Ich würde eher sagen, das verhindert, dass ich jemals denken werde, besser als meine Patienten zu wissen, was gerade für sie angesagt ist. Wir sind Begleiter, im besten Fall Orientierungshilfe.
Nun haben Sie sich aber in gewisser Weise für den schwersten Weg entschieden und arbeiten ausgerechnet mit denen, die nicht unbedingt als therapierbar gelten …
Am Anfang war das Trotz. Ich dachte mir, ihr mit euren Psychiatrie-Diagnosen – psychotisch, schizophren, weiß der Henker. Am meisten hasse ich „dissozial“. Diese Arbeit ist meine Art zu sagen: Aufgeben akzeptiere ich nicht. Für mich selber nicht. Und erst recht nicht dieser Gesellschaft gegenüber, wenn sie behauptet, manche Menschen sind abzuschreiben, sind Abfall. Das finde ich eine unerträgliche Frechheit.
Und wie gut halten Sie es heute aus, dass Begleiten auch Begleiten beim Scheitern bedeuten kann?
Mit meinen völlig veränderten Lebensbedingungen und der Tatsache, dass ich seit 18 Jahren mit der gleichen Frau zusammenlebe und wir vier wundervolle Kinder haben, hat sich ein nötiger Abstand entwickelt. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass ich auch weiterhin keinen Abstand dazu haben kann, was deutsche Mentalität, die Bedeutung von Funktionieren und Scheitern, den Menschen so antut.
Was heißt das konkret für Ihre Arbeit?
Dass ich nicht darauf reinfalle, gesellschaftliches Funktionieren als oberstes Ziel ärztlichen Handelns zu sehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Glück auf jeder Ebene von gesellschaftlicher Existenz möglich ist. Auch unsere Patienten verlieben sich, zeugen Kinder, sind aus ganz anderen Gründen glücklich oder unglücklich. Produktivität im ökonomischen Sinne spielt deshalb für mich hier keine Rolle. Ob einer eine Maßnahme beim Jobcenter anfängt oder nicht, das kann für ihn selbst eine große Bedeutung haben. Aber ich behandle meine Patienten nicht, damit sie dem Jobcenter bessere Klienten sind.
Es gibt ja die Theorie, dass gerade Angebote wie Ihre systemstabilisierend wirken und tiefgreifende Veränderungen blockieren.
Diese Studi-Argumentation kenne ich. Die finde ich so absurd, weil unsere Patienten ja tatsächlich leiden. Es gibt ein konkretes Elend, mit dem nicht nur Ärzte umgehen müssen, sondern auch die Gesellschaft. Nicht mal ein Viertel der Kinder, die in diesem Land aufwachsen, wachsen gewaltfrei auf. Was ist denn das für eine Gesellschaft, die Kinder so übersieht, der das so scheißegal ist?
Sie sind also der Meinung, die Verbreitung von Drogen würde sich erst eindämmen lassen, wenn Kindern mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde?
Wenn es in dieser Gesellschaft mehr Herz für Kinder gäbe, dann würde auch mehr gesehen und gehandelt, wenn etwas schief läuft und Kinder solche schweren Misshandlungen erfahren, dass sie sich mit Drogen selbst medikamentieren müssen. Das passiert aber nicht und deshalb mache ich mir auch keine Sorgen um meinen Arbeitsplatz.
Klingt zynisch.
Ja, klar ist das zynisch. Ich bin da auch ratlos. Wenn ich König von Berlin wäre, würde ich die Versorgung von Schulen nach dem Sozialindex der umliegenden Bevölkerung richten und Kindergarten zur Pflicht machen und entsprechend ausstatten. Aber da stoßen wir ja schon ans Ende unserer Vorstellungskraft.
Deshalb bleiben Sie in Ihrer Praxis und behandeln die, die das System ausspuckt.
Deshalb bleib ich in meiner Butze und richte aus, was ich ausrichten kann.
Würde es denn etwas bringen, Drogen zu legalisieren? Um die Debatte kommen wir in Berlin ja gerade nicht herum.
Ich finde das lustig, dass die grünen Spießer aus Kreuzberg jetzt alle die Legalisierung von Kiffen fordern, aber bis vor kurzem noch bereit waren, gegen den Drogenkonsumraum in der Reichenberger Straße zu mobilisieren. Das ist so bigott! Die ganze aktuelle Debatte um Legalisierung wird völlig blind geführt.
Inwiefern?
Wenn wir die Frage der Legalisierung diskutieren, dann müssen wir von bestimmten Grundvoraussetzungen ausgehen, und die sind ganz simpel: Wenn Drogen erreichbar sind, dann werden sie konsumiert. Wenn Drogen billig sind, dann werden sie erst recht konsumiert. Und am meisten werden die konsumieren, die es am nötigsten haben. Das sind unwiderlegbare Fakten. Wenn ich also dafür eintrete, Drogen zu legalisieren, dann muss mir völlig klar sein, dass das in erster Linie die treffen wird, die sich am wenigsten dagegen wehren können. Nur psychisch, ökonomisch und sozial gesunde Menschen können ohne Probleme saufen, kiffen und Partydrogen nehmen. Deshalb ist Legalisierung nichts, was man aus der Perspektive der Freiheitsrechte oder Eigenverantwortung diskutieren kann.
Sprich: Sie sind gegen frei verkäufliche Drogen?
Auf jeden Fall. Eine Legalisierung von THC würde konkret bedeuten, dass eine bestimmte Szene damit umgehen würde, wie sie es derzeit mit Alkohol handhabt. Verbunden mit allen negativen Gesundheitsfolgen des Dauerkonsums. Wir wissen ja, dass ein großer Teil der Berliner Schüler heutzutage THC-erfahren ist. Nur ein ganz kleiner Teil von denen bekommt Probleme. Aber bei denen, die sehr früh und sehr massiv konsumieren, gibt es keinen Unterschied in der Schwere der Erkrankung zu denen, die beispielsweise auf Heroin oder Alkohol abstürzen.
Aus Ihrer Sicht werden die sozialen Probleme, die Sucht zugrunde liegen, im Moment ohnehin nicht gelöst. Das heißt auch, dass es Süchtigen nicht besser geht, wenn Drogen kriminalisiert werden.
Das stimmt. Aber das ist kein Argument für eine Legalisierung. Das ist ein Argument für eine Entkriminalisierung zum Beispiel durch Substitution oder staatliche Heroinvergabe.
Nach den vielen Jahren der Normalisierung, so nennt man das ja – wo sind Sie persönlich heute angekommen?
Normalisiert hat sich das tiefe Misstrauen gegenüber allem und jedem. Ich bin immer noch der Mensch, als der ich geboren und aufgewachsen bin, aber ich kann heute zufrieden sein. Ich hatte auch einfach tierisch Glück. Das ist ja auch so ein Faktor: Ich glaube ernsthaft, dass es nur eine Frage von Glück ist, ob man mit einer Lebensgeschichte wie meiner in der Junkieszene oder im Irrenhaus landet.
Was waren Ihre Glücksfaktoren?
Ich hatte das Glück, Drogen zu entdecken, bevor ich mich umgebracht habe. Ich hatte das Glück, dass ich auf Drogen niemals so viel Scheiß gebaut habe, dass ich dafür zu Recht im Knast gelandet wäre. Und ich hatte das Glück, Menschen zu treffen, die mir die Augen geöffnet haben.
Jetzt muss ich noch mal nachhaken: Sie sagen, die Drogen haben in einer bestimmten Phase Ihr Leben gerettet – und Sie sind trotzdem gegen Legalisierung?
Oh ja. Dafür killt Sucht zu viele Leute. Am Alkohol sterben heißt immer noch, 20 Jahre seines Lebens zu verlieren. Drogen sind ein Mittel gegen Verzweiflung, aber kein erstrebenswertes.