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Archiv-Artikel

„Kluge Angst und ein dummes Grinsen“

Vor 50 Jahren revoltierten die Ungarn gegen die sowjetische Herrschaft. Heute versucht die Rechte, den Aufstand von 1956 für sich zu reklamieren. Doch die geschichtlichen Fakten sprechen eine andere Sprache, so György Dalos

taz: Herr Dalos, als vor ein paar Wochen das Lügenbekenntnis des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány publik wurde, stürmte eine Menge das Fernsehgebäude – so wie am 23. Oktober 1956 eine Menge vor dem Rundfunkgebäude demonstriert hatte und so den Aufstand auslöste. Das war ein historisches Remake …

György Dalos: … ja, das war eine Nachinszenierung. Politik in Ungarn ist sehr symbolisch.

Im Moment versucht die ungarische Rechte, den Aufstand von 1956 für sich zu reklamieren. Zu Recht?

Nicht nur Rechte, alle berufen sich in Ungarn auf 1956. Den Aufstand selbst kann man nicht klassisch rechts oder links nennen. Er war kurz, heftig und explosiv. An dem Aufstand nahmen alle möglichen politischen Kräfte teil – von Trotzkisten bis zu Faschisten, von der liberalen Mitte über Sozialdemokraten bis zu Religiösen. Entsprechend gab es jede Menge Parolen und Forderungen. Nur eine Forderung gab es 1956 nicht: die freie Marktwirtschaft.

Warum nicht?

Das Wort Kommunismus war ebenso verhasst wie das Wort Sowjet – aber Sozialismus oder Arbeiterrat keineswegs.

Gab es damals eine intellektuelle Führungsgruppe, die die Revolution antizipiert und geplant hat? Und die ein Programm hatte?

Antizipiert ja, geplant nein.Es gab damals etwas vage Vorstellungen von einem Sozialismus mit ungarischem Antlitz. Das war der verschwommene Versuch, die Idee eines Dritten Weges mit dem Nationalen zu verknüpfen. Entscheidend für die Dynamik des Aufstand 1956 war die Intervention des Sowjetunion. Am 24. Oktober rollten sowjetische Panzer in Budapest – und vereinten damit Kommunisten und Antikommunisten erst zu diesem Aufstand.

Es war also eine spontane, ungeplante Revolte?

Ja. Die Studenten zogen am 23. Oktober 1956 vor das Rundfunkgebäude, um ihre Solidarität mit der polnischen KP zu bekunden. Sie hatten noch nicht mal Megaphone dabei. Sie forderten vorsichtig „ungarisch-sowjetische Freundschaft auf Basis der Gleichrangigkeit“. Dann kamen die Arbeiter aus den Außenbezirken hinzu – und schlossen sich der Demo an. Das hat den Charakter des Ganzen verändert. Nun wurde gefordert: „Wer Ungar ist, zieht mit uns.“ Das Nationale kam vor dem Sozialen. Die Studenten haben die Kontrolle über die Demo verloren. Ich erinnere mich daran, dass es sowieso kaum Kontrollen auf der Straße gab: keine Staatssicherheit, keine Polizei auf der Straße. Die Polizei war sowieso nicht ausgebildet für solche Einsätze. Sie hatte noch nicht mal Gummiknüppel. Die gab es erst später, unter Kadar. Sie hießen „komprimierter Marxismus“, oder „Kadarwurst.“

Hatten die Aufständischen ein gemeinsames Ziel und eine Kommandostruktur?

Nein. Sie kooperierten in praktischen Dingen wie Lebensmittelbeschaffung und Nachrichtenverbreitung. Aber vor allem waren sie Rivalen. Man darf auch nicht vergessen, dass der harte Kern der Aufständischen nur aus etwa 500 Leuten bestand. Und die haben es fertig gebracht, dass die sowjetischen Panzer in Budapest nicht mehr vom Fleck kamen. Sie haben die Sowjets in ein Dilemma gestürzt. Militärisch konnte Moskau nichts tun, politisch noch weniger. Deshalb hat sich die Sowjetunion damals zurückgezogen – bevor sie dann richtig einmarschiert ist.

Können Sie erklären, warum es ausgerechnet in Ungarn den ersten Aufstand gegen die sowjetische Imperialmacht gab?

Ein Grund war der sklavische Gehorsam der ungarischen KP-Führung gegenüber Moskau. Das war etwa in Polen anders. Es gab 1956 in Posen einen von der polnischen KP-Führung blutig niedergeschlagenen Aufstand mit 80 Toten. Was immer man über die polnische KP denkt – sie hat sich nicht hinter Moskau versteckt, so wie die ungarische. Sie hatte immerhin den Mut, ohne Moskau zu fragen, ihre gesamte Führung abzulösen. Dazu wären die ungarischen KP-Leute völlig unfähig gewesen. Die ungarische KP hat immer wieder Drohgebärden gegenüber Protesten gezeigt, war aber zu schwach, sie umzusetzen.

Der Aufstand hatte, trotz der disparaten Gruppen, ein politisches Ziel: den Ausstieg aus dem Warschauer Pakt und ein von Moskau unabhängiges, souveränes Ungarn. Das hätte Moskau aber nie geduldet. Also war der Aufstand eine Illusion.

Ja. Die Tschechen wollten 1968 gar nicht aus dem Warschauer Pakt austreten, trotzdem gab es die Okkupation. Von heute aus betrachtet war die Neutralität 1956 eine Schnapsidee. Aber damals nicht. Die Ungarn hatten die Neutralitätserklärung Österreichs vor Augen. Damals war der Warschauer Pakt erst ein Jahr alt. Und sie wussten nicht, dass der Westen die Aufteilung der Welt akzeptiert hatte. Sie haben, anders als die Polen, die wussten, dass ihnen niemand von außen helfen wird, der Propaganda der USA vertraut. Genauer gesagt: Sie haben den Versprechungen von „Radio Free Europa“ geglaubt, weil sie daran glauben wollten.

Warum hat so ein zaudernder Politiker wie der Reformkommunist Imre Nagy den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärt?

Er wollte das eigentlich nicht. Zu Beginn hat er tagelang zähen Widerstand gegen den Aufstand geleistet. Dann merkte er, dass es so nicht geht. Nagy wollte die Wünsche der Sowjets mit den Eigenheiten Ungarns in Einklang bringen. Erst als das scheitert, unterstützt er den Austritt. Er stand vor der Wahl, loyal zu Moskau oder loyal zum ungarischen Volk zu sein. Er hat diese Wahl getroffen und blieb bis zu seinem Tod dabei. Nagy wiederholte das Schicksal des Grafen Batthyány, der 1848 als Ministerpräsident erst die Revolution bekämpft, um den Konflikt mit den Habsburgern zu verhindern – und dann von den Habsburgern getötet wurde. Genau so erging es Nagy, der hingerichtet wurde.

Nach der Niederschlagung gab es eine Terrorwelle gegen die Aufständischen mit hunderten von Todesurteilen. Gleichzeitig setzte 1956 im Ostblock die Entstalinisierung ein. Woher kam diese Brutalität, die nicht richtig in die Zeit passte?

Die herrschende Elite hat so den Schock bekämpft, dass sie für einen historischen Augenblick die Macht verloren hatte. Diese maßlose Rache geschah nicht nur auf Anweisung Moskaus. Die überzogene Vergeltung ist ein Merkmal der ungarischen Geschichte. Solchen Terror gab es auch nach dem niedergeschlagenen Bauernaufstand 1514, damals verübt vom ungarischen Adel, und 1849 von den Habsburgern. Dieser Terror diente nicht dazu, einen Aufstand zu bekämpfen – er kam danach. Er diente psychologisch dazu, die Angst der Elite vor dem Machtverlust zu verarbeiten.

Ungarn wurde danach zur fröhlichsten Baracke des Ostblocks – Realsozialismus mit kleinen Freiheiten. Warum?

Die politische Elite wusste nach 1956: Ohne sowjetische Panzer verlieren wir alles. Und das Volk wusste: Wir können das Regime stürzen – aber dann kommen die Sowjets. Diese doppelte Erfahrung hat nach 1956 die Zwangsgemeinschaft von Volk und Führung begründet – das ungarische Modell. Dieses Modell basierte auf zwei Elementen: der Angst und dem Grinsen. Auf kluger Angst und dummem Grinsen.

Und heute? Was ist davon 2006 in Ungarn noch präsent?

Die Angst. Man kann den Ungarn mit autoritären Gesten noch immer leicht Angst machen.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE, CHRISTIAN SEMLER