„Man muss fragen: Was ist schiefgelaufen?“

Der Sozialwissenschaftler Joachim Merchel fordert mehr Mut zur Selbstkritik in den Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen

taz: Herr Merchel, im Fall Kevin hat das Jugendamt ein misshandeltes Kind zu lange in seiner Familie belassen. Liegt das am Sparkurs oder an Fehleinschätzungen der Beteiligten?

Joachim Merchel: Nach dem Eindruck, den ich über die Presse gewonnen habe, könnte es in Bremen an beidem gelegen haben. Es gab wohl Fehleinschätzungen in den Fallkonferenzen. Dazu aber haben sich die Sparvorschläge im gesamten Organisationsklima wohl als Druck ausgewirkt. Die Fachkräfte hatten vermutlich eine Art Zensur im Kopf. Die bewirkte, dass man nicht mehr fragte, was notwendig ist. Stattdessen fragte man, ob man es noch so eben verantworten kann, das Kind nicht in die Obhut einer Einrichtung zu geben.

Wer überprüft die Entscheidungen der Fallkonferenzen?

Niemand. Die Fallkonferenz selbst ist ja dafür da, dass die verantwortliche Fachkraft sich mit Kolleginnen und Kollegen berät. Sie ist also schon so eine Art Supervision.

Das hat hier aber nicht ausgereicht.

Das sollte aber normalerweise ausreichen. Die Fallkonferenz hat offenkundig nicht fachlich genug gearbeitet. Und wenn das Organisationsklima nicht stimmt, dann kann man die Verantwortung auch nicht nur einer einzelnen Fachkraft zuschieben.

Was meinen Sie damit?

Die Frage ist: Wie laufen die Fallkonferenzen ab? Wird da wirklich ernsthaft beraten? Gibt es in diesem Team ein Klima, in dem Kollegen auch abweichende Einschätzungen abgeben können? Oder stellt einfach jemand einen Fall vor, der dann abgenickt wird. Auch das passiert bisweilen in Jugendämtern, vor allem in Teams, die schon lange miteinander arbeiten. Das darf aber nicht passieren. Das muss man in den Jugendämtern, auch in Bremen überprüfen.

Welche Lehren ziehen Sie nun?

Die erste Lehre ist natürlich, dass man immer nahe am Fall bleibt und Entscheidungen dann zügig trifft. Die kompliziertere Lehre aber ist: In allen Jugendämtern gibt es immer wieder schwierige Fälle zu bearbeiten. Dabei kommt es auch zu Hilfeverläufen, die anders vonstatten gehen, als sie sollten. Jedes Jugendamt müsste jährlich prüfen: Was sind das für Fälle? Was ist genau schiefgelaufen und wie können wir das ändern? Mit anderen Worten, sie sollten ein Fehlermanagement betreiben.

Es gibt eine Tendenz, seine Fehler unter den Tisch fallen zu lassen?

Ja, das ist ja auch eine menschliche Reaktion. Ich kenne nur wenige Jugendämter, die so ein Fehlermanagement systematisch betreiben. Es kann sich nämlich nicht einfach ein Sozialarbeiter heldenhaft hinstellen und sagen: Hier wäre mir der Fall fast aus dem Ruder gelaufen. Es muss institutionalisiert werden, so dass jeder sich an dieser Aufarbeitung von Schwierigkeiten beteiligt. Dazu bedarf es einer Leitung die das Ganze gut moderieren kann.

Das Familienministerium möchte nun ein Frühwarnsystem einrichten, Unionsländer plädieren für obligatorische Arztbesuche für Kinder. Was ist besser?

Das sogenannte Frühwarnsystem weist sicher in die richtige Richtung. Es ist übrigens keine neue Idee. Viele Städte wie zum Beispiel Düsseldorf haben schon eine aufsuchenden Beratung für komplizierte Familien organisiert. Hochproblematisch finde ich Pflichtuntersuchungen oder andere Zwangsmaßnahmen. Durch Zwang werden Eltern eher abgeschreckt. Und die Sanktionen, etwa die Kürzung des Kindergelds, schaden dann letztlich den Kindern.

Andererseits ist die Hürde, einfach nicht zu Untersuchungen zu gehen, dann sicherlich höher, oder?

Ich bin sicher, dass es dann Familien gibt, die trotzdem nicht hingehen. Und die haben dann am Ende auch noch weniger Geld. Das erhöht nur den Stress. Das halte ich für kontraproduktiv.INTERVIEW: HEIDE OESTREICH